Muster der rechten Revolte

geschrieben von Anne Engelhardt

1. Juli 2022

Niklas Franzen zur Situation in Brasilien

Zum aktuellen politische Geschehen in Brasilien sind die Beiträge von Niklas Franzen seit langem eine zuverlässige und informative Quelle. Da ist es umso erfreulicher, dass nun ein neues Buch von ihm zur Lage in dem südamerikanischen Land erschienen ist. In »Brasilien über alles. Bolsonaro und die rechte Revolte« beleuchtet Franzen die Entwicklung der rechtsradikalen Tendenzen und die inneren Spaltungslinien in Brasilien. Das Buch liest sich wie eine Mischung aus Reportage und Landesporträt – mit bewegendem Tiefgang. Die letzten zehn Jahre vor der Wahl von Jair Bolsonaro werden beleuchtet, beginnend mit der Zeit der Weltwirtschaftskrise 2008/2009, die in Brasilien erst einige Jahre später eintraf. Auch der Aufstieg der Evangelikalen zur beinahe neuen Staatsreligion, die Polizeigewalt und die Drogenbanden in den Favelas, die Rolle der sozialen Medien und der Manipulation sind Thema im Buch. Sie lassen Klassenfragen scheinbar in den Hintergrund rücken, und doch sind sie eng mit ihnen verwoben.

Franzen ist in seinen Berichten erstaunlich nah dran am Geschehen. Er begibt sich in die Masse, die dem neugewählten Präsidenten Ende Oktober 2018 zujubelt. Oder er stellt sich vor den Präsidentenpalast zu den »Jüngern« des Präsidenten. Der Autor will deren Beweggründe verstehen, jenseits von einfachen Schubladen. Wie konnte ein politischer Außenseiter wie der rechtsradikale Jair Messias Bolsonaro, der noch wenige Monate vor den letzten Präsidentschaftswahlen kaum unter den bekannten Kandidat:innen auftauchte, so schnell an die Macht gelangen, und vor allem: Wie konnte er sie behalten?

In acht Kapiteln wird dieser Frage nachgegangen und ein vielschichtiges Bild aufgeklappt, sowohl räumlich als auch historisch. Während ein Großteil des Porträts aus den letzten zehn bis fünfzehn Jahren entsteht, scheut Franzen sich nicht, an den Beginn der Kolonialzeit zurückzukehren, um den Zusammenhang zwischen Kolonialismus, Sklaverei und der heutigen Polizeigewalt und dem institutionellen Rassismus aufzuzeigen. Darüber wird immer wieder deutlich: Der »Bolsonarismus« ist ebenso wie der »Trumpismus«, der Aufstieg der AfD in Deutschland oder andere ähnliche rechte Tendenzen weltweit, kein losgelöstes Phänomen, das allein auf eine Figur oder eine kurze Periode zurückzuführen ist. Stattdessen hängt es mit den globalen wirtschaftlichen Entwicklungen, aber auch der neoliberalen Integration zunächst progressiver Regierungen wie der von Luiz Inácio Lula da Silva zusammen.

Niklas Franzen: Brasilien über alles. Bolsonaro und die rechte Revolte. Assoziation A, 2022, 240 Seiten, 18 Euro

Niklas Franzen: Brasilien über alles. Bolsonaro und die rechte Revolte. Assoziation A, 2022, 240 Seiten, 18 Euro

Unter der Regierung des Hoffnungsträgers stieg Brasilien in die Gruppe der zehn stärksten Nationen auf. Armut wurde bekämpft, die Lebenserwartung stieg, armen Schichten gelang der Weg in die Universität und in bessere Zeiten. Jedoch werden diese Verbesserungen der Minderheitsregierung des Partido dos Trabalhadores (PT, deutsch: Partei der Arbeiter:innen) durch die Zahlung von Schmiergeldern an andere Parteien erkauft. Nicht nur hier, auch an anderen Stellen zeigt Franzen die Bruchlinien in der scheinbar linken Erfolgsstory der PT auf. In dem Machtvakuum, das in der Zeit der einsetzenden Wirtschaftskrise unter der Nachfolgerin Lulas entsteht, tritt zum ersten Mal Bolsonaro in Erscheinung. Während des medial aufgebauschten Amtsenthebungsverfahrens gegen die Präsidentin Dilma Rousseff 2015 rüttelt Bolsonaro in der breiten Öffentlichkeit an den Grenzen des Common Sense. Vor laufender Kamera begründet er, warum er für die Amtsenthebung der Präsidentin sei und schreit dann ins Mikrofon: »In Erinnerung an Carlos Alberto Ustra, dem Schrecken von Dilma Rousseff!«. Ustras ist die Figur, die nachweislich in der Militärdiktatur für die Folter der damals jungen linken Aktivistin Rousseff verantwortlich war.

Und hier beginnt das Nachzeichnen einer für rechte Parteien bezeichnenden Auftrittsweise: Es mangelt ihnen zwar an Lösungen und Ideen, aktuelle wirtschaftliche und soziale Probleme anzugehen. Allerdings werden die Dämme des Unsagbaren überall aufgebrochen. Ob ein Gauland den Holocaust als Vogelschiss der Geschichte bezeichnet oder Bolsonaro Mord an Menschen, die Diebstahl begehen, rechtfertigt, es folgt der gleichen Strategie der Enthemmung. Das Parlament wird zum Stammtisch. Und es folgt der Strategie der Entmenschlichung, um Gruppen gegeneinander aufzuhetzen. Dabei werden vor allem alte Wunden aufgerissen, wie Franzen sehr genau nachzeichnet – entweder die der Kolonialzeit oder die der letzten Militärdiktatur: Hauptsache es werden Tabus gebrochen, die Umverteilung weiter nach oben gelenkt, andere Lösungsansätze der Krise verlacht, verfolgt, vernichtet. Das passiert vor allem auch über die weit verbreitete Nutzung sozialer Medien, wo Sprachnachrichten und Videos, Fotos und Fotomontagen das geschriebene Wort ersetzen. Es braucht keine Erklärungen, Fakten oder Theorie, was auf Bildern oder Videos zu sehen ist, ist die Wahrheit.

Das Buch wirft ebenso einen Blick in die Zukunft des Landes: Selbst wenn im Herbst 2022 eine linkere Regierung gewählt würde und Lula zurückkehrt, sind die rechten Ideen und Strukturen »gekommen, um zu bleiben«. »Wir müssen Bolsonaros rechte Revolte verstehen, um – auch anderswo – effektive Gegenmittel zu finden«, so Franzen.