Netzwerke spannen

geschrieben von Nils Becker

1. Juli 2022

Beim 4. NSU-Tribunal in Nürnberg zeigt sich, wie wichtig Kontinuität ist

Elf Jahre nachdem die rechte Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) sich nach einem Banküberfall selbst enttarnt hat, braucht es weiterhin den Ruf nach Aufklärung. Damals wurde von höchster Stelle versprochen, die Taten und Hintergründe lückenlos zu ermitteln. Nach dem Strafprozess gegen Beate Zschäpe und wenige Unterstützer war das Thema für die Justiz durch. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse versuchten die Gründe für das Versagen der Geheimdienste und Polizeien aufzudecken. Doch viele Fragen sind geblieben. Nachdem in Köln (2017), Mannheim (2018) und Chemnitz (2019) sogenannte NSU-Tribunale stattgefunden haben, wurde Anfang Juni die bayerische Stadt Nürnberg zum Veranstaltungsort.

Nürnberg als NSU-Tatort

In Nürnberg ermordete der NSU den Blumenhändler Enver Şimşek und den Metallfacharbeiter und Schneider Abdurrahim Özüdoğru. Außerdem fand hier der erste Bombenanschlag des NSU 1999 gegen die Bar »Sonnenschein« statt. Der damalige Besitzer Mehmet O. konnte sich noch zwölf Jahre später an die Frau des NSU-Unterstützers André Eminger erinnern. Zu einer Anklage kam es nie. Eminger hatte Ausschnitte eines Nürnberger Stadtplans auf dem Computer. Auch hierzu gab es keine Ermittlung. Das NSU-Trio Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe übernachtete sogar in einer stadtbekannten Neonazi-Wohngemeinschaft. Die Polizei notierte sächsische Kennzeichen. All diesen Hinweisen wurde nicht nachgegangen. Deshalb war das Tribunal an diesem Ort so wichtig. Es fand am prominenten Ort – im Staatstheater – gegenüber der Staatsoper statt.

Foto: Der Eingang des Staatstheaters Nürnberg, wo zwischen dem 3. und 5. Juni das Tribunal »NSU-Komplex auflösen« stattfand. Foto: nsu-tribunal.de

Foto: Der Eingang des Staatstheaters Nürnberg, wo zwischen dem 3. und 5. Juni das Tribunal »NSU-Komplex auflösen« stattfand. Foto: nsu-tribunal.de

Wie schon bei den den letzten Tribunalen gab es neben einem umfangreichen Bühnenprogramm viele kleinere Workshops, Stadtrundgänge und Demonstrationen.

Zentral bei den Tribunalen sind nicht nur die Forderungen nach Aufklärung und Gerechtigkeit, sondern der Raum für die Angehörigen und Betroffenen, um ihr Leid zu teilen, über das Leben nach dem Verlust und heute zu sprechen und sich gegenseitig zu unterstützen. Besonders beeindruckend waren dieses Mal die Töchter von Enver Şimşek und Mehmet Kubaşık (ermordet in Dortmund 2006), die in der großen Versammlung (knapp 900 Menschen nahmen teil) ihren Gefühlen in bewegenden Statements Ausdruck verliehen. Ihre Väter waren von der ermittelnden Polizei zu Drogendealern stilisiert, die Morde als Reviertaten abgetan worden. Nach der Polizei, die ihre Verdächtigungen bis 2011 nicht einstellte, kam die Presse und schrieb über die angeblichen Morde im migrantisch geprägten Drogenmilieu. Die Opfer wurden zu Tätern gemacht, die Familien unter Generalverdacht gestellt. Ein Trauern um die Angehörigen war lange nicht möglich. Der Neffe von Süleyman Taşköprü (ermordet 2001 in Hamburg) forderte daher eine ständige Kommission zur Aufklärung. Der Staat soll anerkennen, dass Fehler gemacht wurden. Die Betroffenen müssen entschädigt werden. Auch Mehmet O., der ehemalige Betreiber der »Sonnenschein«-Bar berichtete, dass nach dem Anschlag sein Leben in Nürnberg vorbei war. Er meldete Konkurs an und zog weg. Zu schwer waren die Schäden und der Vertrauensverlust in die Nürnberger Behörden.

Überlebende fordern »Keinen Schlussstrich«

Dieses Mal war das Tribunal noch mehr ein Ort der Vernetzung mit anderen Initiativen von Angehörigen rassistischer Gewalt. So waren Überlebende des Anschlags von Halle (2019) und von der Initiative 19. Februar, die an die Mordnacht in Hanau (2019) erinnert, stark präsent. Auch der Bruder von Oury Jalloh, der vor 17 Jahren in einer Polizeizelle unter immer noch ungeklärten Umständen verbrannte, war anwesend. Alle forderten sie »Keinen Schlusstrich« unter die Morde. Die Verbrechen bleiben präsent, solange darüber in der Öffentlichkeit gesprochen wird.

Insbesondere wurde in Nürnberg über die sich immer besser organisierende extreme Rechte gesprochen. Die Gefahr, die von ihr ausgeht, ist allen gewahr, nur fehlen die größeren Netzwerke, die dagegen konsequent vorgehen. Die unermüdliche Vernetzung der Angehörigen der Opfer kann auch aktiven Antifaschist*innen helfen, sich neu zu finden, und gemeinsame Strategien zu erarbeiten.

Informationen: nsu-tribunal.de