Zeitenwende« zum Fürchten

geschrieben von Conny Kerth

1. Juli 2022

Über »unsere Werte« und Deutschland als »Führungsmacht«

In der Januarausgabe der antifa war an dieser Stelle zu lesen: »Derweil macht die grüne Außenministerin mit ihrer Ansage einer ›wertebasierten Außenpolitik‹ und klaren Feindbildern da weiter, wo einst Joseph Fischer angefangen hat. Wir erinnern uns: Der hatte gemeinsam mit dem sozialdemokratischen Verteidigungsminister Scharping mit Bomben auf Belgrad Deutschland wieder zu einem Krieg führenden Land gemacht – angeblich ›um ein neues Auschwitz zu verhindern‹. (…) Der fortschreitenden Militarisierung der Innen- und Außenpolitik gilt es einen Riegel vorzuschieben.«

Werte für die Rüstungslobby

Keine zwei Monate hat es gedauert, bis Kanzler Olaf Scholz im Schatten des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Bundestag eine »Zeitenwende« ausrief und ein 100-Milliarden-Aufrüstungsprogramm verkündete. Die Reaktion: stehender Applaus des Parlaments. Was über Jahre in Gesellschaft und Parlament sehr kontrovers diskutiert worden war, wurde plötzlich gefeiert wie ein Befreiungsschlag; die wenigen Abgeordneten, die schockiert waren, fielen kaum auf. Entsprechend reibungslos durchlief das Milliardenpaket samt »mitgelieferter« Änderung des Grundgesetzes die parlamentarischen Abstimmungsprozesse. Kaum wurde auch nur erwähnt, dass gleichzeitig das jahrelang umkämpfte »Zwei-Prozent-Ziel« für die Rüstung ohne weitere Debatte mit beschlossen wurde.

Die gesellschaftliche Akzeptanz für Aufrüstung steigt. Bisher waren Losungen, wie hier beim Global Climate Strike am 24.9.2021 in Hamburg, für viele Menschen noch eine Binsenweisheit. Foto: ziviler-hafen.de

Die gesellschaftliche Akzeptanz für Aufrüstung steigt. Bisher waren Losungen, wie hier beim Global Climate Strike am 24.9.2021 in Hamburg, für viele Menschen noch eine Binsenweisheit. Foto: ziviler-hafen.de

Kritische Berichterstattung zum Thema ist die Ausnahme, richtet sie sich doch wesentlich darauf, die angeblich mangelnde Kriegsbegeisterung der »Ampel«, namentlich der SPD, zu skandalisieren. Als Expertin wird gern die FDP-Politikerin und Rüstungslobbyistin Marie-Agnes Strack-Zimmermann zitiert. Die grüne Außenministerin hält weltweit Reden über die Verteidigung »unserer Werte« an der ukrainischen Front, und der grüne Wirtschaftsminister macht frisch frisiert mit einem tiefen Diener vor dem Emir von Katar deutlich, was »wir« darunter zu verstehen haben. Energiewende? Klimarettung? Das war vor der »Zeitenwende«.

Am 21. Juni hielt nun der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil eine »Grundsatzrede zur Zeitenwende«.1 Darin entwirft er ein analytisch und sprachlich eher schlicht gehaltenes Bild von der zukünftigen Welt, in der sich verschiedene »Zentren« herausbilden, und erhebt für »Europa« den Anspruch, dass »wir das attraktivste Zentrum sind«. Und weiter: »Dabei kommt es ganz viel auf Deutschland an. Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben. Nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung hat Deutschland heute eine neue Rolle im internationalen Koordinatensystem. Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten ein hohes Maß an Vertrauen erarbeitet. Mit diesem Vertrauen geht aber eine Erwartungshaltung einher. Das haben wir gerade in den Diskussionen der vergangenen Wochen erlebt. Deutschland steht immer mehr im Mittelpunkt. Wir sollten diese Erwartungen erfüllen.«

Legitimes Mittel der Politik?

An späterer Stelle sagt Klingbeil: »Friedenspolitik bedeutet für mich, auch militärische Gewalt als ein legitimes Mittel der Politik zu sehen.« Das sieht seine Parteikollegin und Bundesministerin der Verteidigung sicher genauso. Gern lässt Christine Lambrecht sich bei den Waffengattungen in passender Uniformjacke fotografieren und spricht ganz als Teil der Truppe Sätze, die mit »Wir als Bundeswehr« beginnen. Wie war das noch mit dem Primat der Politik?

Die Überlebenden von Naziterror, Vernichtungskrieg und Völkermord haben aus der Tatsache, dass sie nur überleben konnten, weil der deutsche Faschismus mit militärischer Gewalt besiegt wurde, nicht den Schluss gezogen, Friedenspolitik bedeute, in Zukunft »militärische Gewalt als legitimes Mittel der Politik zu sehen«. Sie haben sich eingesetzt für eine starke internationale Gemeinschaft, die mit Verhandlungen und Verträgen den Frieden sichert. Ihnen bleiben wir verpflichtet und setzen dieser »Zeitenwende« und der damit verbundenen Aufrüstung und Militarisierung von Politik und Gesellschaft unseren entschiedenen Widerstand entgegen.

Erfolgreicher Widerstand setzt große gesellschaftliche Bewegung voraus. Es gibt viele gute Argumente, aktiv zu werden. Um die Vielen, die jetzt auf schwierige Zeiten vorbereitet werden, mit unseren Argumenten zu erreichen, müssen wir für sie glaubwürdig sein. Und dazu gehört auch eine klare Position gegen den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, in dessen Windschatten die »Ampel« an »dem Anspruch einer Führungsmacht« arbeitet.

1 Die Rede ist nachlesbar unter:
augengeradeaus.net/2022/06/dokumentation-klingbeil-rede-militaerische-gewalt-ist-legitimes-mittel-der-politik