Keine digitalen Avatare

geschrieben von Maxi Schneider

4. September 2022

Eine Ausstellung zum Schweigen, Reden und Zuhören von jüdischen Holocaustüberlebenden

Das Kooperationsprojekt des Jüdischen Museums Hohenems mit der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg wird aktuell in Zusammenarbeit mit dem Berliner Centrum Judaicum gezeigt. Ein bereits bestehender Teil leitet durch die Nachkriegsgeschichte und fragt nach der Rolle, Funktion und Form von Zeitzeug*inneninterviews in den unterschiedlichen historischen Kontexten bis heute. Der Fokus liegt auf Westdeutschland mit Exkursen in die USA, nach Osteuropa und nach Israel. Ein neu hinzugekommener Teil thematisiert anhand von Videointerviews mit überlebenden Berliner Jüd*innen die Gemachtheit der Zeitzeugenberichte.

Im Mittelpunkt steht nicht die Frage »Was«, sondern »Wie« und unter welchen Umständen berichtet wird. Neben der Station »Schweigen« wird durch den Zusammenschnitt von alltäglichen Unterbrechungen, die üblicherweise aus Interviews herausgeschnitten werden, die Gesprächssituation selbst in den Vordergrund gerückt. Ein Ensemble aus Einzelinterviews ist nicht inhaltlich geordnet, sondern nach den oft beobachtbaren Formen der Verpackung von Erlebnissen für das jeweilige Publikum. Da gibt es die »Erfolgsgeschichte« des Partisanen Samuel Makower, dem es gelungen ist, Bahngleise in die Luft zu jagen. In weiteren kurzen Videobeispielen werden die Fragmentierung und Lückenhaftigkeit menschlichen Erinnerns und die Grenzen der Darstellbarkeit sichtbar. Zwei Videos, die mit großem zeitlichen Abstand aufgenommen wurden, zeigen Gad Beck, der mit fast identischer Gestik und nahezu wortgleichen Erzählungen über seine Erlebnisse in der Reichspogromnacht berichtet, und verdeutlichen seine Erzählroutine. Carl Hammerschmidt hingegen, der nach 1945 als Kaffeebauer in Panama lebte, antwortet auf Fragen nach seinen Erinnerungen an die Nazizeit in Berlin konsequent mit Bemerkungen über das Klima in seiner neuen Heimat und war trotz des Willens, seine Erfahrungen zu teilen, offensichtlich nicht in der Lage dazu.

Aufnahme des Ausstellungsteils »Eine gemachte Sache – das Zeitzeugen-interview«. Foto: Maxi Schneider

Aufnahme des Ausstellungsteils »Eine gemachte Sache – das Zeitzeugen-interview«. Foto: Maxi Schneider

Der zweite Teil der Ausstellung leistet eine Historisierung der Zeitzeugenschaft seit 1945. Hier werden die Verschiebungen in der öffentlichen Wahrnehmung der Zeugenschaft verhandelt: vom Verstummen der Zeitzeugen in den 50er-Jahren, über die Bedeutung der Zeugenaussagen der Überlebenden in den Prozessen gegen die Nazitäter in den 60er-Jahren und die gesellschaftlichen Aufbrüchen der 70er-Jahre und 80er-Jahre, als die Zeitzeugenschaft, wie wir sie heute kennen, entstand, bis hin zu den 90er-Jahren und der Gegenwart, die als Zeit der konkurrierenden Erinnerungskulturen und des medialen Massenkonsums beschrieben wird.

Neben den vielen Formen der Ignoranz und Missachtung gegenüber den Erfahrungen auf der einen sowie den Schritten, mit denen sich Zeug*innen für ihre Erinnerungen Gehör verschaffen konnten, auf der anderen Seite finden wir auch Stationen vor, die Unerwartetes zeigen. So eine US-amerikanische Fernsehshow, die 1953 das Schicksal einer Auschwitzüberlebenden zum Teil des abendlichen TV-Unterhaltungsformats macht und das Wiedersehen mit einem ihrer Befreier publikumswirksam als Happy End inszeniert. Dieser verstörend versöhnlichen und kitschigen Darstellung steht beispielsweise die Geschichte von Erna Krafft gegenüber. Als Zeugin im Auschwitzprozess 1964 setzte sie sich über die ihr zugedachte Rolle hinweg, wendete sich direkt an ihren ehemaligen Peiniger und drohte ihm, ihm seine Peitschenhiebe mit gleicher Münze heimzuzahlen, sollte er jemals freikommen.

Gerade vor dem Hintergrund des ersten Ausstellungsbereichs wirkt der abschließende Ausblick auf neuere Formen erinnerungskultureller Tradierung, der die Wahl lässt zwischen Abschied und Hologramm, besonders beklemmend. Die Versuche, Zeug*innen als digitale Avatare zu konservieren, stehen in starkem Kontrast zu der gerade gewonnenen Erkenntnis von der Situationsgebundenheit der Interviews und der alles andere als bruchlosen Individualität und Vielfältigkeit realer Persönlichkeiten hinter der Figur des Zeitzeugen. So erscheint das Hologramm umso mehr als geglättete Figur, die nicht mehr Zuhören von ihrer Zuhörerschaft einfordern kann, sondern ganz dem Zugriff der Fragenden und ihrer Interessen unterworfen ist. Wo ist der Schmerz? Wo das Schweigen? Wo sind die Irritation oder das Missverständnis, das menschlich erzeugt wird und nicht durch den Algorithmus?

Die Darstellung der Geschichte der Zeitzeugenschaft ist gelungen und informativ. Allein aufgrund des begrenzten Platzes einer Wanderausstellung muss sie aber fragmentarisch bleiben. Die großen Fragen nach Instrumentalisierung und Funktion der Zeugenschaft werden gestellt, mögliche Antworten können aber nur angedeutet werden. Um Antworten auf die Frage nach dem »Ende der Zeitzeugenschaft« wird sich nicht wirklich bemüht. Doch ebenso das »Vor-Augen-führen« der Fragen selbst ist lohnenswert: »Wie kann der Vielfalt und dem Grundsatz der Diversität auch in den Erinnerungskulturen Rechnung getragen werden, ohne Konkurrenz zu verstärken? Wie kann Gleichgültigkeit entgegengetreten und Solidarität gefördert werden?«. Die Antworten darauf müssen wir für uns selbst finden.

Eine Ausstellung über die Zeitzeugenschaft von Jüdinnen und Juden, die die Shoah überlebten, wird derzeit in der Neuen Synagoge in Berlin gezeigt und wirft Fragen auf, die auch unseren Verband beschäftigen. Bis zum 8. Januar 2023 werden die Tafeln, Videos und Installationen zu sehen sein. Neue Synagoge, Oranienburger Straße 28–30, Berlin-Mitte