Vererbter Schmerz
4. September 2022
Der mühevolle Weg zur Sichtbarkeit von Sklavinnenaufständen
Die US-amerikanische Juristin und promovierte Historikerin Rebecca Hall beleuchtet in der eindrucksvollen Graphic Novel »Rufe aus der Vergangenheit« ihre eigene Familiengeschichte, Erzählungen weiblichen Widerstands gegen die Sklaverei und die Frage, wie Schmerz und Trauma intergenerational weitervererbt werden. Durch die Kollaboration mit dem Zeichner Hugo Martinez wird ihre persönliche und akademische Suchbewegung in eindrücklichen Bildern nachgezeichnet.
Das wenige Material, das Hall in ihrer mühevollen und kleinteiligen Recherche zu drei Aufständen zusammenträgt, wird ergänzt durch den fiktiven, aber auf den Materialien basierenden möglichen Nacherzählungen der Geschehnisse. Dadurch gibt sie den häufig namen- und gesichtslosen Protagonist*innen Sichtbarkeit und Anerkennung.
So beispielsweise den vier Frauen Sarah, Abigail, Lily und Amba, die 1712 in New York an einem Aufstand beteiligt waren und von denen zwei verurteilt wurden. In der fiktiven Würdigung ihres Lebens zeichnet Rebecca Hall nach, wie die vier gemeinsam mit anderen Sklav*innen entscheiden, sich zu wehren, statt zu Tode gearbeitet zu werden. Rebecca Hall folgt der Spur eines Gesetzes, welches 1708 nach einem Aufstand verabschiedet wurde, und stößt so auf den Widerstand der »teuflischen Negro«, welche gemeinsam mit einem weiteren Sklaven ihre Slavenhalterfamilie tötete und danach wegen Hochverrats hingerichtet wird.
Ihre Recherche in England lässt Hall auf von Frauen geführte Versklavtenaufstände auf Sklavenschiffen aufmerksam werden. Ihre Nacherzählung zu den Frauen unter den Widerstandskämpfer*innen 1769/70 auf dem Sklaventransportschiff »Unity« stellt diese als Ahosi-Kriegerinnen aus Ouidah, der Region des heutigen Benin, dar. Der Widerstand gegen Sklavenhalter*innen beginnt hier bereits in Westafrika und schon vor den Ereignissen auf dem Schiff. Der kollektiver Aufstand auf der »Unity« rahmt die Graphic Novel und somit den Blick auf die Vergangenheit und die Zukunft.
Die Banalität des Bösen zeigt sich im Recherchematerial, welches die völlige Entmenschlichung der ausgebeuteten Sklav*innen aufzeigt. Es wird nicht über Menschen, sondern über »Cargo« gesprochen, die Hauptquellen finden sich in Parlamentsarchiven, Gerichtsakten, Zeitungsartikeln oder auch den Dokumentationen, die von Kapitänen der Sklavenschiffe für Versicherungsgesellschaften geführt worden sind. Halls juristische Expertise ermöglicht es ihr, aus diesen Unterlagen die unfassbare Grausamkeit des rechtlichen Zugangs auf versklavte Körper herunterzubrechen und für die Leser*innen greifbar zu machen. Immer wieder zeigen sich die andauernde Macht kolonialer Wissensbestände, sei es, wenn Hall der Zugang zum Archiv des Staatsgerichts in Queens oder in das Archiv der Versicherungsgesellschaft Lloyds verwehrt wird, welche ihr Kapital auf der Ausbeutung schwarzer Arbeitskraft aufbaut. Sei es im Parlamentsarchiv in London, wo Hall dauerhaft von Sicherheitskräften begleitet wird, während sie sich stundenlang durch das verstörende Material arbeitet. Die Verzweiflung und Erschöpfung in diesem Prozess ist durch die Zeilen Halls spürbar.
Graphisch beeindruckend umgesetzt wird das durch den Zeichner Hugo Martinez. Sein an den Linolschnitt angelehnter Stil fängt die Härte und Gewalt der beschriebenen Realitäten ein. Um die verschiedenen Zeitachsen und Kontinuitäten darzustellen, arbeitet er mit Spiegelungen und unterschiedlichen Perspektiven. Dies bestärkt die andauernde Wirkung der Vergangenheit auf die Gegenwart und rückt die Personen in den Vordergrund. Die detailreichen Zeichnungen und der Wechsel zwischen der Icherzählerin Hall und den episodenhaften Geschichten werden von Martinez großzügig gestaltet.
Die engagierte Wissenschaftlerin Hall schreibt auch über sich selbst als Enkelin von Versklavten und ihren Umgang mit dem schmerzhaften Erbe der Versklavung. Sie ehrt ihre Großmutter als Kämpferin gegen rassistische Gewalt, die sich ihre Lebensfreude nicht nehmen ließ und ihre Familie beschützte. Hall argumentiert dafür, die Vergangenheit nicht zu ignorieren, sondern die Auseinandersetzung mit ihr in die Gegenwart zu integrieren und so die intergenerationalen Traumata zu heilen, um in der Lage zu sein, sich eine Zukunft vorstellen zu können: »Wenn wir unsere Vergangenheit zurück holen, wird unser Erbe des heroischen Widerstandes, unser unwirtlicher Weg, die Lücke füllen, die uns verschwinden lassen könnte.«
Ein wichtiges Buch, das Licht auf die gewaltvolle Vergangenheit wirft und gleichzeitig in eine empowernde Zukunft scheint, von Beginn bis Ende.