Ungewöhnliche Annäherung

geschrieben von Regina Girod

7. November 2022

Wolfgang Herzberg konstruiert eine Geschichte seiner Familie

Seit mehr als 40 Jahren arbeitet Wolfgang Herzberg als Autor, Publizist und Dokumentarist. Er hat Gedichte und Rocktexte verfasst und eine eigene Methode der literarischen Aufbereitung bio-grafischer Interviews entwickelt, mit der er eine Brücke zwischen Literatur, Publizistik und Wissenschaft schlägt. Als sein wichtigstes Buch bezeichnet er selbst den Band »Überleben heißt Erinnern. Lebensgeschichten deutscher Juden«, der 1990 im Aufbau Verlag erschien. Das Bewahren der Erinnerungen jüdischer Überlebender und ihrer Familien, die Auseinandersetzung mit ihren kulturellen und religiösen Prägungen und die Analyse ihrer Rolle im gesellschaftlichen Leben der DDR wurden zu seinen Lebensthemen. Er konnte sie nicht aus sicherer intellektueller Distanz heraus bearbeiten, sie wurden ihm, dem in England geborenen Sohn junger deutsch-jüdischer Emigranten, die als Kommunisten in die DDR zurückkehrten, in die Wiege gelegt.

So ist es nur folgerichtig, dass er als Resümee seines Lebenswerkes jetzt den Band »Jüdisch & links. Erinnerungen 1921–2021. Zum Kulturerbe der DDR« vorlegt, mit 500 Seiten ein wahrer Fels in der erinnerungspolitischen Landschaft. In dieser Besprechung soll es daher zunächst nur um die Erinnerungen gehen. Eine Reflexion des letzten Teils des Buches, der essayistischen Streitschrift »Zur Kontroverse um Juden in der DDR und ihr kulturelles Erbe« folgt in einer der nächsten Ausgaben der antifa.

Wolfgang Herzberg: Jüdisch & links. Erinnerungen 1921–2021. Zum Kulturerbe der DDR. Vergangenheitsverlag, Berlin 2022, 500 Seiten, 24 Euro

Wolfgang Herzberg: Jüdisch & links. Erinnerungen 1921–2021. Zum Kulturerbe der DDR. Vergangenheitsverlag, Berlin 2022, 500 Seiten, 24 Euro

Das Besondere an »Jüdisch & links« besteht darin, dass Wolfgang Herzberg hier seine eigene Methode für die Aufzeichnung von Lebenserinnerungen benutzt. Das heißt, er führt lange biografische Interviews und bearbeitet sie so, dass der Interviewer ganz aus der Erzählung verschwindet. Die sprachliche Diktion der Interviewten wird so weit wie möglich übernommen, so dass beim Lesen, wie sonst nur beim Hören, auch Ungesagtes, inhärente Wertungen und Gefühle der Sprechenden aufscheinen. Die Texte wirken dadurch unmittelbar und authentisch.

»Jüdisch & links« offeriert so den Lesern nacheinander die Erzählung der Mutter, Ursula Herzberg, des Vaters, Hans Herzberg, und des ältesten Sohnes, Wolfgang, über die Geschichte ihrer Familie im 20. Jahrhundert. Für mich eine äußerst spannende Lektüre! Im selben Jahr geboren wie der jüngste Sohn der Familie, habe ich jede Menge eigene Erinnerungen an Personen, Orte und Umstände, die in dem Buch vorkommen. Auch die gesellschaftlichen und politischen Aspekte, wie Verfolgung, Emigration und Politisierung des jungen Paares, das mit dem hohen Anspruch, am Aufbau eines antifaschistischen Deutschlands mitzuwirken, nach dem Krieg zurückkehrte, sind mir vertraut. Viele ehemalige Remigranten aus England haben im Osten den Bund der Antifaschisten (BdA) und den Interessenverband der Verfolgten des Naziregimes (IVVdN) mit begründet und blieben lebenslang aktive AntifaschistInnen.

Wirklich beeindruckend war für mich die Idee des Autors, die Sichten der Mitglieder einer Familie auf das gemeinsam Erlebte zu dokumentieren. Wer das gelesen hat versteht, dass es die Familiengeschichten, die wir täglich hören und selbst produzieren, nicht gibt. Was scheinbar objektiv daherkommt, eingebettet in nachprüfbare Fakten und Umstände, ist immer eine individuelle Erzählung – eine Konstruktion. Wolfgang Herzbergs Buch beweist, die Facetten einer Familiengeschichte werden umso reicher, je mehr Beteiligte ihre Version erzählen können. Wir sollten rechtzeitig anfangen, in unseren eigenen Familien darüber zu sprechen.

Der konstruktivistischen Methode Wolfgang Herzbergs folgend habe ich nach »Jüdisch & links« auch noch das schmale Büchlein »Mosaik« seines Bruder André gelesen, das bereits 2004 in einem Autorenverlag erschienen ist. André Herzberg war in der DDR ein bekannter Rocksänger, der Frontmann der Rockgruppe Pankow. Er reflektiert die Familiengeschichte ganz anders, in einem fragmentarischen Text mit verstörenden Bildern.

Die Sichten der Brüder auf die Geschichte der Familie, eingebettet in die Geschichte des 20. Jahrhunderts, unterscheiden sich grundsätzlich. Lässt man sich aber ohne Vorurteile auf sie ein, wird deutlich, dass beide Haltungen, geprägt durch unterschiedliche Erfahrungen, begründet und berechtigt sind. Wolfgang teilt und verteidigt bei allen Schwierigkeiten den Anspruch seiner Eltern, ihr Leben dem Kampf für eine gerechtere Welt zu widmen. André dagegen beschreibt mit schonungsloser Offenheit, wie Traumata der jüdischen Verfolgungsgeschichte und uneingelöste Heilsversprechungen des Sozialismus sein Leben prägten. Er hat Gefühle durchlitten, die sein Bruder abwehren konnte, und hat die Verletzungen, die ihm zugefügt wurden, rigoros an andere weitergegeben.

Doch solche Erfahrungen kommen nicht nur in Familien mit Verfolgungsgeschichten vor, viele Menschen teilen sie. Abwertung, Sprachlosigkeit und Gewalt haben nicht nur die Beziehungen der Opfer belastet, sondern auch die von Mitläufern und Tätern. Aus diesem Zeitalter kommen wir alle. Es ist noch nicht vorbei.

1985 erschien Herzbergs erstes Interviewbuch »So war es – -Lebensgeschichten zwischen 1900 und 1980«. Darin beschrieben ehemalige Arbeiter:innen des Berliner Glühlampenwerkes ihr Leben. Es war der erste Versuch, Methoden der Oral History in die DDR-Literatur einzuführen und einfachen alten Menschen, die offiziell die Macht im Staat besaßen, ein eigenes Gesicht und eine eigene Stimme zu geben.