Im »Nahen Osten« nichts Neues

geschrieben von Wanja Musta

7. Januar 2023

Völkerrechtswidriger Angriffskrieg der Türkei auf Kurdistan

Die Wortkombination »Naher Osten« ist eine politische Beschreibung für Länder wie Türkei, Syrien, Irak und Iran sowie Israel und weitere Länder in der Region. Klar ist, dass der Begriff aus einer eurozentrischen Perspektive entstanden ist. Doch von welchen Faktoren ist die Perspektive Europas geprägt? In diesem Text konzentrieren wir uns auf die kurdischen Gebiete und die Nationalstaaten, die an diese angrenzen.

Im April letzten Jahres wurde aus vereinzelten Angriffen ein Angriffskrieg. Seitdem wird fast wöchentlich von Drohnenangriffen, versuchten Bodeneinsätzen, aber auch Giftgasangriffen durch die Türkei auf kurdische Gebiete berichtet. So veröffentlichten die »Internationalen Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzt*innen in sozialer Verantwortung« (IPPNW) in der ersten Oktoberhälfte einen Bericht über den mutmaßlichen Einsatz von chemischen Waffen. Diesen mussten sie anhand von Videos und Krankenberichten erstellen. Denn sie wurden nicht bis in das Gebiet gelassen, wo die Angriffe geschahen. Veranlasst wurde dies von der KDP, der dominierenden Partei in dieser Region, und dazu Verbündete des türkischen Präsidenten Erdogan. Kaum eine Woche später erreichte ein Video von einem weiteren Giftgaseinsatz in den Bergen Kurdistans die Öffentlichkeit. Zu sehen sind Kämpfer*innen der kurdischen Freiheitsbewegung, die in Kontakt mit dem Giftgas gekommen waren. Wild lachend und unkontrolliert zuckend werden die Betroffenen auf dem Video gezeigt. Kurze Zeit später sind beide tot. Jan van Aken, der Chemiewaffenexperte der Linkspartei, war auch beteiligt an dem IPPNW-Bericht. Für ihn deutet alles darauf hin, dass die Türkei völkerrechtswidrig agiert. Es brauche nur ein Mitgliedsstaat der Chemiewaffenkonvention um eine Untersuchung zu bitten, so van Aken. Doch niemand will es sich mit der Türkei verscherzen.

Anschlag instrumentalisiert

In einem Guerillatunnel in Werxelê sind von der türkischen Armee bei der völkerrechtswidrigen Invasion in Südkurdistan eingesetzte Gasgranaten dokumentiert worden.

In einem Guerillatunnel in Werxelê sind von der türkischen Armee bei der völkerrechtswidrigen Invasion in Südkurdistan eingesetzte Gasgranaten dokumentiert worden.

Größere Aufmerksamkeit hierzulande bekam ein grausamer Anschlag in der Istanbuler Innenstadt am 13. November 2022. Dieser wurde sofort von der AKP/MHP-Regierung als Instrument gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK verwendet. Die Vermutung, dass die PKK hinter dem Anschlag stecken könnte, reichte als Legitimation, um am 19. November ein Gebiet von mehreren hundert Kilometern in Rojava und Südkurdistan bombardieren zu lassen. Ein internationaler Aufschrei blieb aus. Auch als Erdogan Ende November eine Bodenoffensive auf Rojava ankündigte, kam nicht mehr als Besorgnisbekundungen. Und auch nur aus den Ländern, die wenig bis kaum beteiligt sind. Deutschland ist nicht nur wegen der »deutsch-türkischen Freundschaft« in der Flüchtlingspolitik sehr befangen, sondern auch, da Erdogan seit vielen Jahren Waffenbesteller Nummer eins der deutschen Rüstungsindustrie ist. Seien es wichtige Teile für Drohnen von Firmen wie Hensoldt oder deutsche Panzer von Rheinmetall. Mit deutschen Waffen wird ein völkerrechtswidriger Krieg geführt. Und nicht nur das: Als NATO-Mitglied und als Mitgliedsstaat der Chemiewaffenkonvention gäbe es gleich zwei Gremien, in denen Deutschland mindestens Untersuchungen fordern könnte. Denn laut Bundeskanzler Scholz, in einem ARD-Interview im Februar, fährt die Bundesregierung schon seit vielen Jahren den Kurs, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern. Doch solange niemand das Vorgehen der türkischen Regierung als völkerrechtswidrig einstuft, scheint die Situation nicht als Krise wahrgenommen zu werden.

Kampf für selbstbestimmtes Leben

Was im kurdischen Teil des Iran und vor allem in der autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien immer wieder angegriffen wird, sind nicht nur Menschen, sondern der ernsthafte Versuch einer demokratischen Gesellschaft. Die Brutalität und die Wahl der Waffen zeigt, dass nicht mit einer so starken Verteidigung der Revolution gerechnet wurde. Vor zehn Jahren wurde im Westen Kurdistans die Revolution des demokratischen Konförderalismus ausgerufen. Zehn Jahre lang wurde diese gegen Assad (Syrien), den »Islamischen Staat« (IS) und die Türkei unter Erdogan verteidigt, und das vor allem auch mit der Hoffnung, einen dauerhaften Frieden im sogenannten Nahen Osten zu schaffen. Die Menschen in der Region sollen nicht länger zum Spielball internationaler wirtschaftlicher und militärischer Interessen gemacht werden, sondern, ein selbstbestimmtes Leben, ein demokratisches Leben führen können.

Internationalist*innen in der ganzen Welt haben den »Tag X« ausgerufen, als Tag, um die Revolu-tion in Kurdistan zu verteidigen. Denn im Gegensatz zu dem immer wieder auftauchenden Narrativ, dass es im »Nahen Osten« ohnehin immer nur Krisen gibt, hat sich die Härte und Gefahr auf ein Level gehoben, das wir uns kaum vorstellen können. Entweder die Revolution wird verteidigt, oder es wird keine Chance auf Frieden für die Menschen in Kurdistan mehr geben. Der VVN-BdA würde es als ältester Friedensvereinigung gut zu Gesicht stehen, diese Verteidigung mit ganzer Kraft und Solidarität zu unterstützen.

Mit dem Tod der Kurdin Jina Amini im iranischen Teil Kurdistans brach Mitte September in ganz Iran die größte Protestwelle seit vielen Jahren los. Es gibt unzählige Tote bei den Protesten, noch mehr Gefangene und seit Mitte Dezember 2022 nun auch die ersten Protestierenden, die hingerichtet wurden. Es soll nun doch Reformen im Iran geben. Doch zu spät, »jetzt geht es um die Revolution«, wie es auf Social-Media-Portalen heißt. Und um diese Revolution voran zu bringen und die Menschen nicht in einem kriegsähnlichen Zustand mit dem Regime alleine zu lassen, braucht es praktische Solidarität und internationale Aufmerksamkeit.

Aktuelle Informationen zum Krieg gegen die kurdischen Gebiete gibt es bei ANF News; anfdeutsch.com/