Keine Zeit verlieren

7. Januar 2023

Auszüge aus Ansprache von Liliana Segre zu Eröffnung des italienischen Senats

Am 28. Oktober vor 100 Jahren begann mit dem »Marsch auf Rom« das italienische faschistische Regime. Liliana Segre war noch ein Kind, als sie durch die rassistischen Gesetze des Faschismus aus der Schule geworfen wurde. Sie war eine Teen-agerin, als sie in einen Zug nach Auschwitz verladen wurde. 30 Jahre lang war die Frau, Mutter und Großmutter als Zeitzeugin in Schulen unterwegs, die die Erinnerung an die Tragödien von gestern immer mehr mit einem Zeugnis für die heutige Zivilisation verband. Aus diesen Gründen wurde sie zur Senatorin auf Lebenszeit ernannt, der höchsten zivilen und moralischen Anerkennung der Italienischen Republik. Liliana Segre ist nicht mehr nur die Frau, die von den Schrecken der Shoah erzählt: Sie ist zu einer Persönlichkeit geworden, die uns jedes Mal, wenn sie spricht, daran erinnert, dass Italien sich für Menschlichkeit, Solidarität und gegenseitigen Respekt entschieden hat. So war es auch Mitte Oktober bei der Eröffnungssitzung des italienischen Senats, in dem nun die faschistische Rechtskoalition die Mehrheit hat. Als Alterspräsidentin entschied sich Liliana Segre für eine Demonstration von politischer Entschlossenheit, intellektueller und moralischer Klarheit. Einmal mehr gab sie allen ein Beispiel dafür, wie antifaschistisches Engagement heute aussehen sollte.        Alessandro Pollio Salimbeni

In diesem Monat Oktober, der den 100. Jahrestag des »Marsches auf Rom« markiert, mit dem die faschistische Diktatur begann, ist es an jemandem wie mir, vorübergehend die Präsidentschaft dieses Tempels der Demokratie, des Senats der Republik, zu übernehmen. (…) Die Zugehörigkeit zu einer so bedeutenden Versammlung kann uns allen nur bewusst machen, dass das Land auf uns schaut, dass unsere Verantwortung groß ist, aber gleichzeitig auch die Möglichkeit, mit gutem Beispiel voranzugehen. Mit gutem Beispiel voranzugehen bedeutet nicht nur, unsere bloße Pflicht zu erfüllen, d. h. unser Amt mit »Disziplin und Ehre« auszuüben, sondern danach zu streben, den Institutionen zu dienen und sie nicht auszubeuten. (…) Die aus den Wahlen hervorgegangene Mehrheit hat das Recht und die Pflicht zu regieren; Minderheiten haben die ebenso grundlegende Aufgabe der Opposition. Allen gemeinsam muss das Gebot sein, die Institutionen der Republik zu bewahren, die allen gehören, die niemandem gehören, die im Interesse des Landes funktionieren müssen, die alle Parteien garantieren müssen.

Liliana Segre, 2018

Liliana Segre, 2018

Große, reife Demokratien erweisen sich als solche, wenn sie über Parteispaltungen und die Ausübung unterschiedlicher Rollen hinaus in der Lage sind, sich um einen wesentlichen Kern gemeinsamer Werte, respektierter Institutionen und anerkannter Embleme zu scharen. In Italien ist der wichtigste Anker, um den herum sich die Einheit unseres Volkes manifestieren muss, die republikanische Verfassung, die (…) das Testament von 100.000 Toten ist, die im langen Kampf für die Freiheit gefallen sind; ein Kampf, der nicht im September 1943 begann, sondern der im Idealfall Giacomo Matteotti (1924 von italienischen Faschisten ermordet, die Redaktion) als seinen Vorreiter sieht. (…) Natürlich ist die Verfassung selbst verbesserungswürdig und kann geändert werden (wie sie selbst in Artikel 138 vorsieht), aber gestatten Sie mir die Bemerkung, dass unser Land ein gerechteres und sogar glücklicheres wäre, wenn die Energien, die jahrzehntelang für die Änderung der Verfassung aufgewendet wurden – übrigens mit bescheidenen und manchmal abwertenden Ergebnissen –, stattdessen für ihre Umsetzung verwendet worden wären.

Der Gedanke führt unweigerlich zu Artikel 3, in dem sich die Verfassungsväter und -mütter nicht damit begnügten, die Diskriminierungen aufgrund von »Geschlecht, Rasse, Sprache, Religion, politischer Meinung, persönlicher und sozialer Verhältnisse« zu verbieten, die das Wesen des Ancien Régime ausgemacht hatten. Sie wollten der »Republik« auch eine immerwährende Aufgabe überlassen: »die Hindernisse wirtschaftlicher und sozialer Art zu beseitigen, die, indem sie die Freiheit und Gleichheit der Bürger wirksam einschränken, die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die tatsächliche Beteiligung aller Arbeitnehmer an der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Organisation des Landes verhindern«. Das ist keine Poesie und keine Utopie: Es ist die Orientierung, die uns alle leiten sollte, auch wenn wir unterschiedliche Vorstellungen haben, um ihr zu folgen: Beseitigt diese Hindernisse! (…) Ein weiteres Terrain, auf dem es wünschenswert ist, (…) gemeinsame Verantwortung zu übernehmen, ist der Kampf gegen die Verbreitung von Hassreden, gegen die Barbarisierung der öffentlichen Debatte, gegen die Gewalt von Vorurteilen und Diskriminierung. (…) Schließlich hoffe ich, dass das gesamte Parlament in der Lage sein wird, in Zusammenarbeit mit der Regierung eine außerordentliche und sehr dringende Verpflichtung einzugehen, um auf die Hilferufe so vieler Familien und Unternehmen zu reagieren, die unter den Auswirkungen der Inflation und dem außergewöhnlichen Anstieg der Energiekosten zu leiden haben. (…) Wir haben keine Zeit zu verlieren: Von den demokratischen Institutionen muss ein klares Signal ausgehen, dass niemand allein gelassen wird, bevor Angst und Wut die Alarmstufe erreichen und überhand nehmen können. Liliana Segre