Mythos und Epos

geschrieben von Reinhold Weismann-Kieser

7. Januar 2023

Die Résistance-Kämpferin Anne Beaumanoir in Heldinnenleben am Schauspiel Hannover

Das Werk von Anne Weber1 über das Leben und Wirken von Anne Beaumanoir in Form eines Epos wurde hier bereits ausführlich gewürdigt.2 Nun hatte aber das Schauspiel Hannover in seiner letzten Spielzeit das Heldinnenleben auf der Grundlage von Webers Text in einfühlsamer Weise auf die Bühne gebracht. Das Schauspiel Stuttgart folgte mit einer eigenen Inszenierung, die dann u. a. im Feuilleton der SZ am 7. November 2022 besprochen wurde. Der Titel der Aufführungen in Hannover und Stuttgart lautete »Annette, ein Heldinnenepos«.

Bezug zum Mythos vom Sisyphos

Hier soll deshalb auf einen Aspekt eingegangen werden, der in der antifa nicht berücksichtigt wurde, der aber sowohl bei Anne Weber selbst wie auch in diesen Inszenierungen eine große Rolle spielt: Im Epos vom widerständigen Leben der Annette, das zuletzt immer enttäuschend war, wird auf den Mythos vom Sisyphos Bezug genommen. Zweimal3 erscheint das Bild vom Stein, den sie unter Qualen nach oben schleppt, der »immer größer wird« und wo sie am Gipfel »einen neuen Grat« erkennt, den sie überwinden soll. Auf der letzten Seite wird dann ausdrücklich auf das Traktat von Camus4 Bezug genommen. Das Bühnenstück in Hannover, wie auch – laut SZ – die Aufführung in Stuttgart, münden im Bild von diesem Mythos. Hier ergibt sich eine doppelte Problematik: Einmal erduldet der Sisyphos der Mythologie eine Götterstrafe, gegen ihn verhängt wegen seines Versuchs, den Totengott zu überlisten. Also sinnlose Mühe wegen seines Widerstands gegen das Unvermeidliche!

Absurdität der menschlichen Existenz

Camus hingegen setzt seinen Sisyphos an das Ende seines philosophischen Traktats, das von der Absurdität der menschlichen Existenz handelt, der Unmöglichkeit, deren Sinn zu erkennen. Die bedingungslose Anerkennung des Absurden und die individuelle Rebellion dagegen – als Alternative nur der Suizid – ermöglichten dem Menschen Freiheit!

Widerstand zu ehren, aber ihn auf die Geschichte persönlichen Scheiterns zu reduzieren, beraubt ihn seiner künftigen Perspektiven, denn realer Widerstand ist immer ein gesellschaftlicher und konkret historischer! Individuelle Triebkräfte sind wohl zumeist moralischer und utopischer Natur. Darin liegt das Element des Scheiterns. Man nehme nur die Losung »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit«! Das historische Resultat war jedoch die reale Möglichkeit einer bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Umwälzungen. Aus ihr ergaben sich neue Notwendigkeiten zum Widerstand. Und auch dessen Scheitern enthält Lehren für die Zukunft. Dies hervorzuheben ist unsere Aufgabe, die wir dem Schwur von Buchenwald verpflichtet sind!

1 Anne Weber: Annette – Ein Heldinnen-epos. Berlin 2020

2 Siehe: Janka Kluge, antifa, 03/21
(siehe https://antifa.vvn-bda.de/2021/03/17/ein-heldinnenepos)

3 Weber a. a. O., S. 204 u. S. 203

4 Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos. Hamburg 2022