Der grüne und der schwarze Winkel

geschrieben von Nicole Kaczmarek

9. März 2023

Zur Gründungsversammlung des »Verbandes für das Erinnern an die verleugneten Opfer im NS«

Aufgrund verschiedener öffentlicher Aufrufe von Frank Nonnenmacher (u. a. antifa vom Mai/Juni 2022 und Januar/Februar 2023) trafen sich am 21./22. Januar 2023 35 Betroffene in Nürnberg, um den »Verband der Verleugneten« zu gründen. Ich war dort, zusammen mit vier anderen VVN-Mitgliedern, die ich aber vorher nicht kannte, und möchte über meine Eindrücke berichten.

Ich bin selbst Nachkomme einer sogenannten Asozialen Familie. Meine Urgroßeltern väterlicherseits hatten zehn Kinder, darunter meine Oma Ruth. Alle wurden, spätestens im Nazismus, komplett auseinander gerissen. Meine Urgroßmutter wurde schließlich 1940 ins KZ Ravensbrück deportiert, mein Urgroßvater nach Sachsenhausen und sechs weitere KZs. Ihre Kinder wurden zwangsweise auf Bauernhöfen (zum Arbeiten), in Erziehungsanstalten und Gefängnissen/Jugendgefängnissen untergebracht. Beide Elternteile überlebten. Drei ihrer Kinder starben im Krieg. Nach 1945 hörte ihre Stigmatisierung nicht auf. Das Gift der Nazis wurde bis in meine Generation hinein weitergegeben.

Schon alleine die Tatsache, dass diese erst am 13. Februar 2020 vom Deutschen Bundestag offiziell als Opfer im Nationalsozialismus anerkannt wurden, beschämt mich und macht mich wütend. Das spricht Bände in der mangelnden Aufarbeitung der Geschichte Deutschlands sowie in der Gesellschaft und Forschung. Aber immerhin: Alle Parteien waren für die Anerkennung, die AfD-Fraktion war die einzige, die den Antrag nicht befürwortete.

In den meisten Opferfamilien der mit dem schwarzen und grünen Stoffwinkel an der Häftlingskleidung Markierten wurde dieses Thema jahrzehntelang totgeschwiegen. Bloß nicht auffallen. Aus allem wurde ein Geheimnis gemacht.

Wir 35 Angehörigen, aus dem ganzen Bundesgebiet angereist, hatten am 21./22. Januar die Möglichkeit, in einem geschützten Raum das auszusprechen, welches Familienschicksal jeder Einzelne erfahren hatte, ohne Wertung anderer. Es herrschte gespenstische Stille. Noch nie traf ich andere Menschen aus dieser Opfergruppe. Am Anfang fragte ich mich, wie vermutlich jede anwesende Person, ob ich imstande sei, irgendetwas zu berichten, ob ich das wirklich sagen darf, ohne doch wieder belächelt oder diskriminiert zu werden. Es folgten sehr emotionale Berichte. Tränen flossen … Ich hatte den Drang, mich endlich zu öffnen. Das erging wohl vielen so. Und es war befreiend.

Ich fühlte mich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich verstanden. Ich musste keine Angst haben und musste mich nicht schämen. Ich verstand endlich: Ich habe das Recht zum öffentlichen Reden. Ich habe das Recht dazu, diesen Verband mitzugründen. Den anderen anwesenden Mitgliedern ging es offensichtlich genauso. Wie ähnlich unsere Biografien waren!

Und es gab eine andere Gemeinsamkeit: Es stellte sich heraus, dass in vielen Familien unsere Angehörigen gegen dieses Treffen waren. Viele scheuten immer noch die Öffentlichkeit: »Man solle doch die Vergangenheit ruhen lassen«, war all die Jahre eine typische Äußerung.

Mir ist Folgendes wichtig: Wir werden deutlich machen, dass es keine genetisch definierten »Asozialen« oder »Berufsverbrecher« gibt, wohl aber Menschen, deren Verfolgung durch die Nazis über 70 Jahre lang verleugnet wurde.

Wir fordern die Medien, die Politik, die Gesellschaft und die Forschung auf, sich endlich mit dem Schicksal unserer Angehörigen angemessen zu befassen. Dazu zählt vor allem die Finanzierung einer systematischen Forschung über die Rolle der damaligen Verfolgungsinstanzen und eine Forschung über die Biografien der Verleugneten. Das steht schon im Bundestagsbeschluss vom Februar 2020, und nichts ist passiert.

Auch die VVN-BdA sollte sich Gedanken zu ihrem Anteil an der Diskriminierung nach dem Kriege machen. Warum wurde die Gruppe auch hier nicht ernst genommen und verleugnet? Eine Entschuldigung wäre das mindeste. Und noch etwas: Es soll ein zentrales Mahnmal in Berlin errichtet werden. Mir ist auch wichtig, dass wir bei erinnerungskulturellen Aktivitäten mit anderen Organisationen zusammenarbeiten. Wir sind bereit, gestärkt, mit einem völlig neuen Selbstbewusstsein unsere Arbeit aufzunehmen.

Ich habe fünf Stolpersteine für meine verleugneten Familienmitglieder. Ich werde über ihre Geschichte berichten, solange ich lebe. Wir werden nicht aufgeben, uns Gehör zu verschaffen. Das verspreche ich.

Nicole ist seit ca. einem Jahr Mitglied im VVN-BdA NRW, im Ortsverband Bochum.