Imaginierte Gefahr

geschrieben von Peps Gutsche

9. März 2023

Im Eliten-Diskurs geht die Angst um, gecanceld zu werden

Adrian Daub beschäftigt sich in dem vorliegenden Buch mit dem in deutschsprachigen Feuilletons so beliebten Scheinphänomen der Cancel Culture. Der Professor für vergleichende Literaturwissenschaften an der Universität Stanford bringt mit »Cancel Culture Transfer. Wie eine moralische Panik die Welt erfasst« seine Sorge zum Ausdruck, dass oft selektiv argumentiert wird, wenn es um Cancel Culture geht – und es ein Aufjammern derer ist, deren Reden ohnehin breiteres Gehör finden.

Daub zeichnet die vielen unterschiedlichen Stränge der Debatte um Cancel Culture nach und folgt diesem Phänomen historisch und in den unterschiedlichen Kontexten. Auf US-amerikanischer Seite zeigen sich dabei zwei interessante Bezugspunkte. Zum einen geht er darauf ein, dass Universitäten in den USA eine besondere kulturelle Rolle spielen, da sie Bezugspunkt vieler US-Amerikaner*innen sind, die diese selbst besucht haben, ihnen werde aber immer ein linkes und vermeintlich bewertendes Image zugeschrieben und dieses medial rezipiert. Zum anderen leitet er die Entwicklung des Begriffs »canceln« her. Die Begriffsschöpfung kommt aus Online-Subkulturen eher marginalisierter Communitys und dient hier keineswegs der vermeintlichen Mundtotmachung. Es ist eine Aufforderung zum Aufmerksamkeitsentzug und ein Ausdruck von Enttäuschung von Fans gegenüber ihren Stars. Von einer machtvollen »Diskurspolizei« kann hier keine Rede sein. Daub hebt dies mit der Gründlichkeit und Ausgewogenheit eines Wissenschaftlers und sanftem journalistischen Humor in diesem sehr lesenswerten Buch hervor. Der literaturwissenschaftliche Einschlag zeigt sich in seiner Analyse, wird jedoch immer wieder um eine politische Einbettung ergänzt.

Wer über Cancel Culture klagt, pickt Beispiele heraus und verallgemeinert von ihnen auf eine breitere Kultur, so Daub. Diese Beispiele werden zu aus dem Kontext gerissenen Anekdoten, so dass ein Vorfall an einer Hinterlanduniversität in den USA zu einer Bedrohung der deutschen Meinungsfreiheit stilisiert werden kann. Daub zeigt, dass die spezifische Empörung im deutschsprachigen Raum auch in einer Zuspitzung des Begriffs Ausdruck findet. In deutschen Medien wird »canceln« mit »Auslöschung« gleichgesetzt und erhält dadurch eine eliminatorische Assoziation, die weder dem Begriff noch den Konsequenzen der entsprechenden Debatten entspricht. Deswegen nutzt Daub den Begriff der moralischen Panik, der sich trotz alledem in der Art, wie darüber gesprochen – und vor allem geschrieben – wird, wiederfindet.

Am Ende geht es bei der vermeintlichen Cancel Culture um nichts anderes als das Aufbauschen von Anekdoten. Diese haben oft reale Vorfälle als Grundlage, bedienen sich aber in Teilen auch literarischen Imaginationen, die in den Anekdoten zur Realität werden. Zusammen mit Kampfbegriffen rund um »Call-out Culture« und »wokeness« bedient sich der konservative und oft rechte Diskurs an Stilfiguren, um gerechtigkeitsorientierte, feministische und antirassistische Diskurse zu delegitimieren und nicht über das zu sprechen, was wirklich gesellschaftlich wichtig ist. Linke Kräfte sollten der Lautstärke des Sprechens über Cancel Culture nicht auf den Leim gehen.

Adrian Daub: Cancel Culture Transfer. Wie eine moralische Panik die Welt erfasst. edition suhrkamp, Berlin 2022, 371 Seiten, 20 Euro