Man spricht immer von Teilhabe …

9. März 2023

Ein Gespräch mit Arnold Weiß vom Landesverein der Sinti in Hamburg e. V.

antifa: Der Landesverein der Sinti in Hamburg e.V. besteht nunmehr seit 1999. Wollen Sie uns bitte berichten, was Schwerpunkte der Organisation sind?

Arnold Weiß: Schwerpunkt unserer Arbeit ist, eine Stimme für die Minderheit der Sinti:zze und Rom:nja hier in Hamburg zu sein, als Verein haben wir da mehr politisches Gehör. Das ist gesellschaftlich gerade auch für die Vermittlung dessen, was in der Vergangenheit passiert ist, wichtig. Mein Vater hat im Jahr 1999 den Verein ins Leben gerufen, und wir führen ihn weiter. Wir vermitteln Wissen über das Unrecht, das im Holocaust geschehen konnte, bis hin zu dem, wie heute in Deutschland eine Spaltung der Gesellschaft – auch am Beispiel des Umgangs mit Sinti:zze und Rom:nja – vonstattengeht. Zudem sorgen wir natürlich auch für Hilfe innerhalb der Community selbst.

antifa: Was sind das für Aktivitäten?

A.W.: Das fängt an bei der allgemeinen Sozialberatung, wir unterstützen behinderte Menschen bei den verschiedenen Anträgen und die Familien bei den Anträgen zum dauerhaften Schutz der Gräber von Überlebenden des Völkermords. Wir arbeiten zudem eng mit Kindern und Jugendlichen zusammen oder helfen geflüchteten Roma, die hier ankommen und ebenso massiver Diskriminierung ausgesetzt sind. Als Stimme der Sinti:zze und Rom:nja beraten wir die Stadt in der Kommission für das Denkmal Hannoverscher Bahnhof und sind im Beirat der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte. Natürlich erfassen wir auch antiziganistische Vorfälle, wie es sie zum Beispiel auch immer wieder bei Polizeikontrollen gibt. Nicht zuletzt sind wir in ganz Deutschland mit anderen Gruppen der Communitys eng vernetzt.

antifa: Wo besteht denn aktuell in Hamburg besonderer Handlungsbedarf beim Abbau von Diskriminierung?

Arnold Weiß ist erster Vorsitzender des Landesvereins der Sinti in Hamburg e. V. und arbeitet als Berater.

Arnold Weiß ist erster Vorsitzender des Landesvereins der Sinti in Hamburg e. V. und arbeitet als Berater.

A.W.: Wo fängt man da an? Man spricht immer von Teilhabe … In Wirklichkeit lässt man die Leute gar nicht teilhaben. Mit dem Ergebnis, dass man ihnen die Chance nimmt, in der Gesellschaft Fuß zu fassen oder voranzukommen. Viele Probleme – und natürlich überall, nicht nur in Hamburg – gibt es für uns zum Beispiel bei der Suche nach Wohnraum. In manchen Stadtteilen erhalten Leute mit bestimmten Nachnamen einfach keine Wohnungsangebote. Riesige Probleme gibt es ebenso mit Ämtern, wo Sinti:zze und Rom:nja vielfach als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Da wird dann von vornherein geduzt oder ohne weitere Gründe einfach nicht kooperiert.

antifa: Vor anderthalb Jahren veröffentlichte die Unabhängige Kommission Antiziganismus nach über zweijähriger Tätigkeit ihren umfangreichen Bericht. Das Gremium war seitens der Bundesregierung beauftragt, eine »systematische Bestandsaufnahme aller Erscheinungsformen des Antiziganismus« zu erstellen. Ist das in Ihren Augen gelungen?

A.W.: Der Bericht spiegelt wider, was wir im Leben erleben, er ist quasi ein Fundament für die Community. Da sind also wirklich die Eckpunkte aufgezählt, die uns direkt betreffen. Bedeutend erscheint mir auch, dass das ein unabhängiger Bericht ist. Wir haben als Verband selbst dazu beigetragen. Nun ist wichtig, darauf aufzubauen, und ich hoffe, dass das irgendwann Früchte trägt. In manchen Bundesländern ist man damit weiter als in anderen. Stichwörter sind hier Staatsverträge, Schutz der Kultur, Minderheit, institutionelle Förderung et cetera. Diese gleiche Teilhabe für Sinti:zze und Rom:nja zu erarbeiten, ist wirklich eine Mammutaufgabe. Ich zum Beispiel bin nun die dritte Generation nach dem Holocaust, und mitunter kämpft man immer noch genauso wie die erste Generation. Es hat sich einiges verändert, die Gesellschaft ist bunter und breiter gefächert. Manche Schubladen existieren aber in den Köpfen weiter, da stellt man Sinti:zze und Rom:nja auch gerne mal in eine Ecke.

antifa: Immer wieder wird bekannt, dass selbst bspw. ukrainische Geflüchtete diskriminierend behandelt werden, wenn sie bestimmten Gruppen zugeordnet werden …

A.W.: Ja, dieses konkrete Beispiel zeigt das ganz gut. Im Grunde kommen ja nicht Roma-Flüchtlinge, sondern ukrainische Staatsbürger hierher. Genauso bin ich deutscher Staatsbürger, schon seit vielen Generationen. Rom:nja und Sinti:zze sind in Europa etwa seit dem 14. Jahrhundert zu Hause. Ukrainische Geflüchtete kommen also mit der Bahn in Deutschland an. Uns wurde geschildert, wie es dann häufig weitergeht. Nach der Zugfahrt werden diese Menschen dann in einen Aufenthaltsraum gebracht. Dort kriegen sie vielleicht einen Kaffee angeboten. Wenn den Beamten dann auffällt, dass Rom:nja oder anders aussehende Leute darunter sind, werden sie komplett überwacht und von den anderen abgeschirmt. Diese Aussortierung ist menschenverachtend und makaber. Das sind ukrainische Staatsbürger. Genauso bin ich deutscher Staatsbürger, so wie es auch Rom:nja aus Frankreich gibt, die französische Staatsbürger sind. Das Land Sintistan oder Romastan gibt es nicht!

antifa: Regelmäßig tauchen in Medien Berichte von Roma- oder Sinti-Siedlungen bzw. sogenannten Elendshäusern auf. Die Klischees und Vorurteile ähneln sich: Schmutz, Kriminalität, Sozialbetrug, schlechte Infrastruktur, um nur einige zu nennen. Über die Ursachen erfährt man selten etwas. Wie gehen Sie damit um?

A.W.: Vielfach haben die Leute im Grunde genommen gar keine Wahl, wenn man irgendwo ein Zuhause sucht. Vielleicht hat man noch eine Familie mit Kindern oder sonst dergleichen. Was soll man tun, wenn man überall in der Gesellschaft abgeblockt wird? Man nimmt das, was zu bekommen ist, egal in welchem Elend du dann bist. Vielfach wird in den Medien das Bild transportiert – versehen mit einem entsprechenden Foto – ja, diese Sinti:zze und Rom:nja leben in unmöglichsten Zuständen. Aber was ist der Sinn und Zweck dieser ganzen Übung, wenn sich andere Räumlichkeiten nicht finden lassen? Eben die Schürung von Vorurteilen, statt Realität aufzuzeigen.

Wichtig wäre stattdessen, die Betroffenen selbst zu Wort kommen zu lassen. Aber eher gibt es häufig sogenannte Experten, die nicht aus der Community kommen und teilweise fortführen, was schon in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und auch danach gang und gäbe war: diese Gruppe unter Beobachtung zu halten und stereotype Verhaltensmuster in der Community zu finden, die Menschen zu stigmatisieren. Dazu passt, dass vielfach noch in den 1990er- und 2000er-Jahren Müllverbrennungsanlagen direkt neben Wohnwagenplätzen angesiedelt wurden, um sich das Bild anzuheften, wir tragen den Müll aus der Stadt heraus. Das wird auch gut im Buch »An den Rändern der Städte – Sinti und Jenische in der deutschen Kommunalpolitik« von Peter Widmann aufgegriffen, das ist von 2001. Sicherlich hat sich hier in den letzten Jahrzehnten auch etwas verbessert, aber der Grundkern der Probleme hat sich nicht geändert.

antifa: Was bedeutet das in Zeiten des gesellschaftlichen Rechtsrucks?

A.W.: Der Hass greift immer weiter um sich. Antiziganismus, das zeigt ja der Bericht der Unabhängigen Kommission, kommt aus der Mitte der Gesellschaft und nicht nur beispielsweise von der AfD. Der ist beim fröhlichen Kleingärtner ebenso im Kopf drin wie beim obersten Professor. In Folge des weiteren Rechtsruckes fällt mir schon auch auf, dass Tabuthemen, die man vorher vielleicht hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen hat, immer präsenter im gesellschaftlichen Diskurs ankommen und dadurch salonfähig werden.

antifa: In dem Kommissionsbericht wird resümiert, dass heute, 78 Jahre nach der Befreiung und dem Ende des Holocaust, die Auswirkungen des Porajmos (Massenmord an Sinti:zze und Rom:nja im deutschen Faschismus) sich wie ein roter Faden durch die gesamte Darstellung ziehen …

A.W.: Kein Wunder. In den 80er Jahren gab es Leute von uns aus Hamburg, die ihre Ausweise abgeben und aus Schikane einen Asylantrag stellen mussten. Da ist man aus allen Wolken gefallen und hat gesagt: Das ist mein Zuhause, wo soll ich denn hin, wenn die Familie hier etliche Generationen gelebt hat? Beispiele dieser Art lassen sich aufgrund der schieren Menge nicht zählen. Meinem Vater wollte man noch 1986 keine Unfallversicherung geben mit der Begründung, »grundsätzlich versichern wir keine Sinti«. Auch zahlreiche Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit zeigen, Antiziganismus ist weiter ein Riesenproblem.

Das Interview führte Andreas Siegmund-Schultze

Arnold Weiß, Jakob Michelsen, Moritz Terfloth, Boris Weinrich: Zwei Welten. Sinti und Roma – Schritte zur Anerkennung als NS-Verfolgte und antiziganistische Kontinuität. Herausgeber: Landesverein der Sinti in Hamburg e. V.., Metropol Verlag, Berlin 2022, 280 Seiten, 24 Euro