Statt eines Nachrufs

geschrieben von Kurt Nelhiebel

9. März 2023

Zum Tod des Anwalts und Autors Heinrich Hannover (1925–2023)

Es dauerte eine Weile, bis wir uns auf einen Termin geeinigt hatten. Das lag nicht an anderweitigen Verpflichtungen und auch nicht an der Entfernung. Von Bremen aus ist man mit dem Auto in knapp einer Stunde in Worpswede, dem postalischen Wohnort von Heinrich Hannover. In Wirklichkeit wohnte er ziemlich weit draußen auf dem Lande in der Nähe des Teufelsmoores, wo sich Fuchs und Hase »Gute Nacht« sagen und nur noch Feldwege weiterführen in die Landschaft mit dem fernen Horizont.

Mit Hilfe von Satellitenaufnahmen hatte ich mir eine Fahrtroute zurechtgelegt, die sich bei näherer Betrachtung als nicht sonderlich empfehlenswert erwies und von Heinrich Hannover rundweg verworfen wurde. Ich hatte sie ihm per E-Mail beschrieben, und er antwortete darauf mit einer handschriftlich angefertigten Wegeskizze. Sie führte mich problemlos und überraschend schnell ans Ziel, über mir ein blauer Maihimmel mit dicken weißen Wolken, ein Himmel, so hoch und so weit, wie er nur hier anzutreffen ist.

Die Bleibe Heinrich Hannovers entdeckte ich nach zweimaligem Hinsehen versteckt hinter Bäumen und Büschen. In ihrer unauffälligen geduckten Bescheidenheit gleicht sie eher der Herberge eines Eremiten als dem Haus eines über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannten Strafverteidigers und Kinderbuchautors, der zu den prägenden Gestalten der deutschen Nachkriegsgeschichte gehört. Und dann stand er auch schon vor mir im Türrahmen, groß, schlank, ein wenig gebeugt, und hieß mich willkommen.

Heinrich Hannover (li.) und Kurt Nelhiebel 2016

Heinrich Hannover (li.) und Kurt Nelhiebel 2016

Das erste Mal waren wir uns vor einem Menschenalter in Frankfurt am Main begegnet, wo sich alljährlich ein Kreis von unbequemen Rechtsanwälten versammelte, die Gegner der Wiederbewaffnung, Pazifisten und Kommunisten vor Gericht verteidigten. Seither hatten wir uns nie aus den Augen verloren. Was Heinrich Hannover 1998 in seinem Buch »Die Republik vor Gericht« zu berichten wusste, war für mich als Journalist von besonderem Interesse. Dasselbe gilt für sein Buch über die politische Justiz zwischen 1918 und 1933, das er 1966 zusammen mit seiner 2009 verstorbenen Frau Elisabeth verfasst hat.

Als ich nach dem Fall der Mauer unter meinem Autorennamen Conrad Taler den Rachefeldzug der bundesdeutschen Justiz gegen die verhassten Juristenkollegen aus der DDR unter die Lupe nahm und darüber ein Buch mit dem Titel »Zweierlei Maß« schrieb, steuerte Heinrich Hannover ein Vorwort bei, in dem er in gewohnter Deutlichkeit bekannte: »Conrad Talers Buch steht quer zur Strömung eines Zeitgeistes, der über Recht und Unrecht Bescheid zu wissen glaubt. Wer es liest, dem werden einige Zweifel kommen, ob Anspruch und Wirklichkeit unseres Rechtsstaates tatsächlich übereinstimmen.«

Wir hatten also einiges zu bereden, als wir im Arbeitszimmer saßen, von dem aus der Blick hinaus geht in die Weite der Worpsweder Landschaft. Ungeachtet der Beeinträchtigung durch seine schwächer gewordenen Augen strahlte der 91jährige während des langen Gesprächs eine mit wachem Verstand und politischem Scharfsinn unterlegte gelassene Heiterkeit aus. Hartnäckig bestand er darauf, dass mir seine jetzige Frau Doris eine Rede vorliest, die er bald darauf bei einer öffentlichen Veranstaltung halten wollte. Eine Gedenktafel sollte enthüllt werden zur Erinnerung an die Beschlagnahme eines alten Bremer Gebäudes durch die Nazis, das während der Weimarer Zeit ein Regionalbüro der Kommunistischen Partei Deutschlands beherbergt hatte und das »Rote Haus« genannt wurde.

Ob mir die Rede gefiele, wollte Heinrich Hannover am Schluss wissen. Als ich das bejahte, meinte er: »Dann halte ich sie so.« Fünf Tage später wurde ich von den Veranstaltern zu der Gedenkfeier eingeladen. Für ein Abschiedsfoto legte Heinrich Hannover mir draußen vor der Tür seinen Arm um die Schultern. Die Sonne war inzwischen tiefer gesunken, und in den Ästen über uns sang eine Amsel ihr erstes Abendlied. Ins Gästebuch hatte ich mich mit dem Satz eingetragen: Ein unvergesslicher Tag.

Anfang Januar ist der Strafverteidiger und Buchautor Heinrich Hannover mit 97 Jahren gestorben. Statt eines Nachrufs veröffentlichen wir einen Artikel seines Freunde von 2016.Einen umfassenden Nachruf hat Rolf Gössner in Ossietzky (3/2023) veröffentlicht.

Heinrich Hannover war auch ein vielgelesener Kinderbuchautor.
Seine bekannteste Figur ist das Pferd Huppdiwupp.