Wegen Beihilfe …

geschrieben von Christian von Gélieu

9. März 2023

Die juristische Aufarbeitung der NS-Verbrechen bleibt lückenhaft

Am 20. Dezember 2022 verurteilte das Landgericht Itzehoe Irmgard Furchner, ehemalige Sekretärin des KZ-Lagerkommandanten in Stutthof zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 10.000 Fällen. Bereits im Sommer 2022 hatte das Landgericht Neuruppin Josef Schuetz, einen früheren Wachmann des KZ Sachsenhausen, wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 3.500 Fällen zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt. Beide Urteile sind noch nicht rechtskräftig.

Damit zeichnet sich wohl das Ende der Aufarbeitung von NS-Verbrechen durch bundesdeutsche Gerichte ab. Eine Rechtsgeschichte, die lange Zeit durch die Weigerung, NS-Verbrechen überhaupt zu verfolgen, die Suche nach juristischer Entlastung der Täter*innen und geschickte Manipulation von Gesetzen gekennzeichnet war.

Viele der von alliierten Gerichten wegen Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilten Täter wurden in den Anfangsjahren der BRD vorzeitig aus ihrer Haft entlassen. Hitlers willige Vollstrecker wurden wieder gebraucht und waren als vollwertige Mitglieder der BRD-Gesellschaft angekommen.

Ein kleines Netzwerk antifaschistisch orientierter Juristen, in deren Zentrum der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer stand, ermöglichte, dass 1958 der Ulmer Einsatzgruppenprozess, ab 1963 die Frankfurter Auschwitzprozesse und 1968 der Hamburger Prozess gegen Angehörige des Reserve-Polizei-Bataillons 101 trotz Widerständen aus einer selbst in den NS-Terror verstrickten BRD-Justiz durchgeführt wurden. Die Prozesse betrafen, wie auch der Majdanek-Prozess von 1975, brutale Massenmorde an jüdischen Menschen, die auch von der Mehrheit der bundesrepublikanischen Bevölkerung mit Abscheu zur Kenntnis genommen wurden und an deren Ausführung die Angeklagten unmittelbar beteiligt waren. Dennoch wurden die meisten von ihnen nur wegen Beihilfe zum Massenmord verurteilt, weil nach dem Verständnis der BRD-Justiz die Morde von der Nazi- und SS-Führung angeordnet waren und die SS-Leute nur Befehlsempfänger gewesen sein sollten. Eine Verurteilung wegen Mordes war nur möglich, wenn die Täter einen »Exzess« begangen, also über die allgemeine Befehlslage hinaus Menschen aus eigenen »niedrigen« Beweggründen ermordet hatten. In den Frankfurter Auschwitzprozessen konnte das zumindest zehn Angeklagten nachgewiesen werden.

Ab 1969 war die Beihilfe zu den Naziverbrechen aufgrund einer von ehemaligen Nazijuristen geschaffenen Gesetzesänderung auch dann verjährt, wenn die »niedrigen Beweggründe« der vermeintlichen Haupttäter Hitler und Co. nicht geteilt wurden. Das führte zur Einstellung des in Berlin geplanten Prozesses gegen ehemalige Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes.

Erst 2011 wurde Iwan Demjanjuk wegen seiner Tätigkeit im Vernichtungslager Sobibor auch ohne nachweisliche eigene Beteiligung an den Verbrechen wegen Beihilfe zum Mord verurteilt. Dieser Paradigmenwechsel in der juristischen Betrachtungsweise führte 2015 zum Urteil gegen den »Buchhalter von Auschwitz« Oskar Gröning und zu den Anklagen weiterer Angehöriger von KZ-Wachmannschaften oder Mitarbeiter*innen der Lagerverwaltungen, an deren Ende die Urteile gegen Furchner und Schuetz im Jahr 2022 standen. Es hat lange gebraucht, um auch die »kleinen Rädchen«, die das Mordsystem unterstützten, anzuklagen und vor Gericht zu bringen.

Übrige Naziverbrechen blieben ausgeblendet

Reinhard Strecker organisierte 1959 mit dem SDS eine Ausstellung über »ungesühnte Nazijustiz«. Die umfangreichen Dokumente, deren Echtheit nicht zu bestreiten war, führte lediglich dazu, dass noch aktiven Nazijuristen das »ehrenhafte« Ausscheiden aus dem aktiven Justizdienst angeboten wurde. Nur wenige Nazirichter wurden daraufhin angeklagt, der ehemalige Richter am Volksgerichtshof Hans Joachim Rehse wurde vom Landgericht Berlin freigesprochen. 1983 veröffentlichte Jörg Friedrich das Buch »Freispruch für die Nazijustiz«. Daraufhin kam es 1984 nochmals zu einer Anklage gegen einen Richter des Volksgerichtshofs. Paul Reimers wurde Mord in 97 Fällen vorgeworfen. Zum Prozess kam es nicht mehr. Reimers beging 1984 Selbstmord.

Verfahren wegen begangener Kriegsverbrechen wurden noch 1995 und 2002 vom Bundesgerichtshof eingestellt. Die Begründung: Die Ermordung von Zivilisten sei auch unter dem Naziregime strafbar gewesen, weshalb die Taten verjährt seien.

Euthanasieverbrechen, der Genozid an den Sinti*zze und Rom*nja wie auch die nach der Machtübertragung zwischen 1933 und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges begangenen Mordtaten der Nazis wurden von der BRD-Justiz nie ernsthaft verfolgt.