Demokratie oder Rebellion

geschrieben von Warda Morzi

29. April 2023

Die Antiregierungsproteste in Israel zur Verteidigung des Rechtsstaats

Es ist zehn Uhr abends in Israels Kleinstadt Karkur am 10. April, dem zweiten-Pessach-Vorabend. Gesänge durchbrechen die Stille. Nach und nach füllt sich eine Kreuzung mit Menschen und Landesfahnen. Plötzlich schreit jemand in ein Megafon: »Busha, busha, busha« (hebräisch für »Schande, Schande, Schande«), andere wiederholen es. Der nächste prominente Ruf ist »Demokratie oder Rebellion«; enthalten ist eine Drohung: Wir sind nicht damit einverstanden, in einer Nicht-Demokratie zu leben. Wir werden rebellieren.

Zwei Stunden zuvor wurde die Rede von Premierminister Benjamin Netanjahu im TV ausgestrahlt, in der er die Vorgängerregierung »der Einheit und des Wechsels« für die prekäre Sicherheitslage verantwortlich machte, die zum tragischen Tod zweier Schwestern geführt hatte. Deren Mutter war nur wenige Stunden vor der Rede gestorben. Es ist nicht das erste Mal, dass Netanjahu Trauer und Angst nutzt, um seine Herrschaft zu festigen. Aber diesmal sind die Bürger*innen wütend. Sie kennen alle seine Tricks.

Nach der Rede gibt es spontane Demos in Tel Aviv und Dutzenden anderen Orten, unter anderem an der zentralen Einfahrt von Karkur. Seit 14 Wochen ist sie ein Sammelpunkt für die Busse, die zur Hauptdemo nach Tel Aviv fahren. Nachdem sie einige Wochen dorthin gefahren sind, initiierten Anwohner*innen eine Aktion an der Kreuzung in Karkur. Diese gewann immer mehr an Schwung und Tausende kamen.

Die Bewohner*innen Israels stehen am Rande des Abgrunds. Die Hotline für psychosoziale Erstbetreuung, ERAN, meldet eine hohe Anzahl von Anfragen zur politischen Krise im Land. Die Gesetzgebung, die von der 37. Regierung vorgenommen wird, verändert das Gesicht des Staates und hinterlässt bei vielen Israelis ein Gefühl der Hilflosigkeit und Frustration.

Die Linke hat sich von der Ermordung des Ministerpräsidenten Yitzchak Rabin im Jahr 1995 nie erholt. Der große Umbruch in Israel, den viele als Schock und sogar als Trauma erlebten, hat das Land in eine große demokratische Krise gestürzt. Der Hauptprofiteur dieses Mords, Netanjahu – der damals Oppositionsführer und einer der Hauptanstifter gegen Rabin war –, diente seit 1996 15 Jahre lang als Premierminister. Fast 30 Jahre später stört Netanjahus politische Stabilität. Über ihm schwebt ein Gerichtsverfahren mit vier Anklagepunkten. Um seine Herrschaft nach vier Wahlkämpfen in zweieinhalb Jahren zu etablieren, hat er zwei extrem rechte Listen miteinander verbunden und ihnen über die Hürde ins Parlament verholfen. Itamar Ben-Gvir, derzeit Minister für Innere Sicherheit in der neu gebildeten Netanjahu-Regierung, ist ein Anhänger von Meir Kahane (1).

Mitte März unternahm Netanjahu spontan eine Reihe von Auslandsbesuchen, zu denen ein Staatsbesuch in Berlin gehörte, um seine Regierung auch in den Außenbeziehungen zu festigen. Mit einer Agilität, die nicht unbedingt typisch für Berlin ist, wird ein Brief veröffentlicht. Die Erstunterzeichner*innen sind Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens und jüdische Intellektuelle in Deutschland. Sie fordern eine offizielle Reaktion auf den Besuch Netanjahus in der Zeit der größten politischen Krise Israels. Auch verschiedene Demos finden in Berlin statt, die wichtigste vor dem Brandenburger Tor. Hunderte Israelis, die in Berlin leben, und einige andere Berliner*innen kamen. Die einzige linke Organisation, die teilnahm und sich so offiziell gegen den neoliberalen Zerstörer Israels positionierte, war Hashomer Hatzair. Bundeskanzler Scholz als auch Josef Schuster vom Zentralrat der Juden in Deutschland äußerten sich gegenüber Netanjahu unzufrieden und besorgt über die politische Lage in Israel. Aber ist diese Reaktion ausreichend?

In Deutschland ist es still. Linke und Rechte sind sich nicht sicher, wie sie mit der neuen Situation umgehen sollen: Die gewählte Regierung in Israel positioniert sich deutlich extrem rechts. Gleichzeitig gehen Hunderttausende auf die Straße. Auch Israelis in Deutschland und anderen Staaten gehen jede Woche auf die Straße, um die Proteste in Israel zu unterstützen. Die Frage ist, ob die Solidarität der Israelis allein ausreicht, um das antidemokratische Vorgehen der Netanjahu-Regierung zu stoppen. Die Geschichte zeigt, dass die Antwort »nein« lautet. Auch wenn die Erfolgschancen besorgniserregend niedrig sind, geben die Hartnäckigkeit und Kreativität der Protestierenden Anlass zur Hoffnung. Wenn die israelische Demokratie diesen Moment überlebt, könnte sie in Zukunft noch stärker und gleichberechtigter werden. Dies ist eine Gelegenheit, um zu verstehen, dass rechte Politik und ihre menschenfeindlichen Einstellungen überall sind und dass wir sie gemeinsam bekämpfen müssen. Es ist eine Gelegenheit zu zeigen, dass eine Demo gegen rechte Politik in Israel nicht antisemitisch sein muss, sondern ein linkes, solidarisches Zeichen setzen kann.

Es ist an der Zeit zu reagieren und echte Solidarität zu zeigen, die sowohl Israelis als auch Palästinenser*innen verdienen: eine Solidarität, die eine bessere Realität schaffen wird.

Rund tausend Menschen kamen am 15. März zu einer Berliner Solidaritätsdemonstration mit den Anti-regierungsproteste in Israel, die auch die lokale Gruppe von Hashomer Hatzair unterstützt hatte. Zeitgleich war Netanjahu im Rahmen einen Staatsbesuches in der Stadt

Warda Morzi ist aktiv bei Hashomer Hatzair, dem wiedergegründeten sozialistischen jüdischen Jugendverband.

1 Meir Kahane war ein 1990 verstorbener extrem rechter Politiker Israels. Seine Liste »Kach« wurde 1988 mit der Begründung, eine terroristische Organisation zu sein, von der Kandidatur für die Knesset ausgeschlossen.