Ein Pulverfass
29. April 2023
Welche Fragen nach dem Blutbad in Hamburg gestellt werden und welche nicht
Am 11. März offenbarte der NDR-Journalist Heiko Sander in der Tagesschau seine große Verwunderung: »Das Bild wird immer kruder«. Der Attentäter von Hamburg habe in seinem 296seitigen Buch Gott und Satan »als Geistwesen bezeichnet, die selbst Emotionen hätten«. Ob der Täter ein Faschist sei, fragt Sander sich nicht, obwohl die Schrift vor Antisemitismus, Frauenhass und LGBTIQ*1-Feindlichkeit nur so strotzt. So wird dort Hitler, neben Putin, als Instrument Gottes beschrieben, da er den Willen des Schöpfers ausgeführt habe – darunter fallen unter anderem die Covid-Pandemie, der Ukrainekrieg und der Holocaust. Und so bleibt eine Frage offen: Was braucht es, um in Deutschland als Nazi zu gelten? Hitler und den Holocaust abzufeiern, reicht anscheinend nicht.
Andere Journalist:innen sind da schon weiter und haben in kurzer Zeit erreicht, was der Polizei in mehreren Monaten nicht gelang, nämlich den Namen des Täters im Netz zu suchen, um sein Buch zu finden. Aber selbst, wenn das geklappt hätte, wäre es vermutlich egal. Darauf lässt zumindest die erste Stellungnahme der Polizei schließen, auf die sich auch Heiko Sander bezieht, wenn er behauptet, die Beamt:innen hätten keine rechtliche Handhabe gegen den späteren Täter gehabt, auf den sie durch eine anonyme Person bereits im Januar aufmerksam wurden – inklusive Hinweis auf das Buch und eine vermutete psychische Erkrankung. Ein paar Tage darauf dann die Korrektur: Im Polizeiapparat wurde wohl ein wenig gepfuscht. Aber das wirkliche Problem, so Hamburgs Innensenator Andy Grote, liege nicht in der Hansestadt, sondern bei den Bundesgesetzen. Die Gemeinde der Zeugen Jehovas, die die wirklichen Opfer zu beklagen hatte, wurde derweil nicht einmal darüber informiert, dass diese Bedrohung im Raum stand.
Und so beginnt das große Rundum-mit-dem-Finger-zeigen. Die Gesetze wären zu schwammig und hätten zu viele Schlupflöcher. Die Umsetzung der Waffenkontrolle beim Täter war unprofessionell und wurde nicht mit Psycholog:innen durchgeführt. Der Entzug der Waffenerlaubnis wäre sowieso geplatzt, weil der Papierkram zu lange dauere. Es gäbe zu wenig Gelder und Beamt:innen für Kontrollen. Oder: Man dürfe jetzt nicht alle Waffenbesitzenden in einen Topf werfen, die meisten seien ja rechtschaffene Bürger:innen. Und: Warum hat der anonyme Hinweisgeber eigentlich keine Rückrufnummer hinterlassen?
Bild impliziert derweil in einer klassischen Opfer-Täter-Umkehrung, die Zeugen Jehovas seien ja schon ein bisschen selbst schuld, so als Endzeitsekte. Und so werden von verschiedenen Medien eifrig Aussteiger:innen interviewt. Völlig irrelevant, dass diese vermutlich nicht viel zum Weltbild des Täters sagen können, denn sie sind ja ausgestiegen, weil für sie die Sekte zu streng und zu repressiv war. Der Täter aber verließ diese, weil sie ihm anscheinend nicht radikal genug war. Die recht kurze Mitgliedschaft erscheint in Anbetracht seines Manifests eher als ein Schritt innerhalb seines Radikalisierungsprozesses, und das zugegebenermaßen problematische Weltbild der Zeugen Jehovas schien nur einen Bruchteil seines Weltbilds auszumachen.
Ebenfalls völlig irrelevant ist für Bild und Co., dass die Zeugen Jehovas bisher keine anderen Attentäter hervorgebracht haben. Die faschistische Ideologie des Täters steht allein in den letzten Jahren national und international mit so vielen Anschlägen in Verbindung, dass sich eine Auflistung an dieser Stelle nicht lohnt, da sie potentiell schon nicht mehr aktuell ist, wenn diese Ausgabe in den Druck geht.
Die vielen Fragen, die derweil zu den Gesetzen und deren Umsetzung auftauchten, sind dabei gar nicht verkehrt, genauso wie jene, warum angebliche Sportschütz:innen halbautomatische Waffen und hunderte Kugeln Munition brauchen, oder warum die Beweislast einer psychologisch-charakterlichen Eignung bei Behörden und nicht den Waffenbesitzenden liegt. Dumm nur, dass die Tat und damit auch die Beantwortung dieser Fragen schon wieder aus den Schlagzeilen verschwunden sind.
Ein Hinweis darauf, auf welchem Pulverfass wir sitzen, gab das ARD-Politmagazin Report Mainz schon zwei Tage vor dem Anschlag in Hamburg. Es berichtete von einem Neonazi, der nach wie vor eine Waffenerlaubnis und einen Sprengstoffschein besitzt – obwohl er vom Verfassungsschutz als »Person mit rechtsterroristischen Ansätzen« eingestuft wird. Und auch, obwohl Kontakte in die Naziszene sowie Besitz von rechtem Propagandamaterial und verschiedenen Waffen (inklusive Panzerfaust und Rohrbomben) bei der Polizei bekannt sind. »Erkenntnisse«, die den Entzug des Waffenscheins rechtfertigten? Fehlanzeige! Report Mainz geht von ca. 1.000 »Extremisten« mit legalen Waffen aus, vermutet jedoch eine hohe Dunkelziffer. Wer sich also mehr als zwei Jahre nach Hanau fragt, ob irgendwer in Behörden und Gesamtgesellschaft aus den damaligen gravierenden Ermittlungsfehlern gelernt hat, hat mit dem Blutbad von Hamburg eine deutliche Antwort bekommen. Und so unklar es laut Report Mainz sein mag, wie viele potentielle Täter:innen es gibt; eines scheint bei diesen Zahlen sicher: Nach dem Anschlag ist vor dem Anschlag.
Am Abend des 9. März wurden in den Räumen der Zeugen Jehovas im Hamburger Stadtteil Alsterdorf (Foto) durch einen 35jährigen mit einer halbautomatischen Pistole sieben Gemeindemitglieder getötet, neun Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Der Täter des Amoklaufs soll selbst ein ehemaliges Gemeindemitglied gewesen sein und tötete sich nach dem Amoklauf selbst. Er hatte vor der Tat fast 700 Schuss Munition kaufen können und besaß einen Waffenschein. Nach dem Verbrechen diskutierte die Ampel schärfere Waffengesetze, insbesondere die FDP bezog dagegen Stellung. Knapp eine Million Menschen besitzen in der Bundesrepublik aktuell einen Waffenschein.
1 International gebräuchliche Abkürzung für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans* und Inter*, Queer (Lesbian, Gay, Bisexual, Trans*, Inter*, Queer).