Nicht mal mehr eine Fassade

geschrieben von Jürgen Weber

29. April 2023

EU: Hohe Haftstrafen für Geflüchtete und Helfende auf dem Mittelmeer

Nicht im öffentlichen Fokus stehen beispielsweise Strafprozesse gegen Geflüchtete in Griechenland und Italien. Weil sie am Motor der Schlauch-boote saßen, wurden Schutzsuchende in Schnellverfahren zu drakonischen Strafen von oft über 100 Jahren Gefängnis verurteilt und inhaftiert. Das klingt unglaublich, ist aber vielfach belegt.

Wöchentlich finden solche Prozesse in Italien und Griechenland statt, nach Erhebungen der NGOs »Aegean Migrant Solidarity« und »borderline–europe« dauern diese Gerichtsverfahren durchschnittlich 38 Minuten und enden für die Angeklagten mit durchschnittlich 44 Jahren Haft. Die NGOs zählen mehrere Tausend inhaftierte Geflüchtete, die als »Schleuser« in den beiden EU-Ländern wie Schwerkriminelle einsitzen.

Einer der von der Berliner NGO »borderline-europe« unter »#Paros3« gut dokumentierten Fälle ist das Verfahren gegen die syrischen Geflüchteten Kheiraldin, Abdallah und Mohamad. Ihr Boot havarierte am 24. Dezember 2021 vor der griechischen Insel Syros. Obwohl die drei Angeklagten für Staatsanwaltschaft und Gericht weder »Schmuggler« waren oder aus Gewinnstreben -gehandelt hatten und auch keine Schuld am Tod von 18 Menschen trugen, wurden die drei Väter wegen »Beihilfe zur unerlaubten Einreise« verurteilt, was zu Strafen von 187 Jahren für den »Kapitän« und 126 Jahren für jeden der beiden »Helfer« führte.

280 Jahre Haft für Fischer aus Ägypten

Das Foto zeigt Proteste mehrerer internationaler NGOs zum Auftakt der Anhörung im Verfahren gegen die Crew des deutschen Seenotrettungsschiffs »Iuventa«. Die gerichtliche Anhörung und der Protest fanden am 21. Mai 2022 in Trapani/Sizilien statt. Siehe auch youtube.com/watch?v=LtLsnPIR2OAFoto: Jürgen Weber

Das Foto zeigt Proteste mehrerer internationaler NGOs zum Auftakt der Anhörung im Verfahren gegen die Crew des deutschen Seenotrettungsschiffs »Iuventa«. Die gerichtliche Anhörung und der Protest fanden am 21. Mai 2022 in Trapani/Sizilien statt. Siehe auch youtube.com/watch?v=LtLsnPIR2OA
Foto: Jürgen Weber

Am 6. März 2023 wurde der ägyptische Fischer H. Elfallah zu 280 Jahren Haft verurteilt, weil er an Bord eines manövrierunfähigen Bootes mit 476 Geflüchteten von der Küstenwache nach Kreta geschleppt und dort verhaftet wurde.

Unter dem Titel »Iran – Europa – Knast« fand im Januar 2023 mit Unterstützung der lokalen VVN-BdA-Kreisvereinigung eine Veranstaltung der »Seebrücke« Konstanz mit der Berliner Sozial-arbeiterin Mahtab Sabetara statt. Deren oppositioneller Vater geriet im Iran ins Visier des Regimes, und der Witwer wollte zu seinen Töchtern in die Bundesrepublik fliehen. Von der Türkei lenkte er einen Pkw mit sieben anderen Geflüchteten nach Thessaloniki. Dort wurde er im September 2021 festgenommen und sitzt seitdem in Haft.

Anfangs galt er als verschollen, bis die Kinder ihn in Griechenland in Haft ausfindig machen konnten. Die Anklage sah für den 59jährigen eine Haftstrafe von 100 Jahren vor. Unter ungewöhnlich großem öffentlichen Interesse wurde der Vater im September 2022 zu 19 Jahren Haft verurteilt. »Unser Vater muss freigelassen werden! Migration ist kein Verbrechen! In was für einer Welt leben wir, in der ein Vater mit Gefängnis bestraft wird, weil er zu seinen Kindern will?«, sagen seine Töchter Mina und Mahtab.

Seenotrettung im Fokus

Auch die zivile Seenotrettung ist mittlerweile der Kriminalisierung oder willkürlichen Schikanen von Behörden in Italien ausgesetzt. Derzeit sind vier deutsche Crewmitglieder des Rettungsschiffes -»Iuventa« in Italien der Beihilfe zur illegalen Einreise beschuldig. Neben diesen stehen in Trapani/Sizilien weitere 17 Beschuldigte von Organisationen wie »Ärzte ohne Grenzen« und »Save the Children« vor Gericht. Ihnen drohen ebenfalls hohe Haftstrafen.

Die »Iuventa« des Berliner Vereins »Jugend rettet« wurde von den italienischen Behörden im Jahr 2017 beschlagnahmt, fehlt seither der zivilen Seenotrettung auf dem Mittelmeer und rostet nun im Hafen der Carabinieri in Trapani vor sich hin. Besagtes Schiff hatte bis dahin mehr als 14.000 Geflüchtete aus Seenot gerettet. Vor Prozessauftakt in Trapani unterstützten im Mai 2022 zahlreiche internationale NGOs und Menschenrechtsgruppen die vier Angeklagten vor Ort. Die gerichtlichen Anhörungen zum Prozess dauern im Frühjahr 2023 noch an.

Der Hamburger »Iuventa«-Kapitän Dariush Beigui stellte in einem Interview zum Auftakt der Anhörung die Situation von Geflüchteten in den Mittelpunkt: »Uns muss klar sein, dass wir immer privilegiert sind. Auch ich jetzt sogar in dieser Situation. Klar, ich habe ein Gerichtsverfahren am Hals und mir drohen bis zu 20 Jahre Haft. Natürlich lässt mich das nicht kalt. Aber wir kriegen viel Aufmerksamkeit und Unterstützung. Und ich kann hier noch rumlaufen, und man hört mir zu. Andere mit demselben Vorwurf sitzen schon seit Jahren im Gefängnis und niemanden interessiert das.«

Das Selbstbild der Europäischen Union als Mahnerin und Hüterin demokratischer Grundwerte und Menschenrechte taugt heutzutage nicht einmal mehr als Fassade, gerade beim Blick an die EU-Außengrenzen. Der Prozess gegen die »Sea-Watch«-Kapitänin Carola Rackete in Italien, illegale Pushbacks auf dem Mittelmeer und an den Außengrenzen oder Bilder von Ertrunkenen, wenn ein Geflüchtetenboot zufällig in Küstennähe havariert, sind da nur einzelne Beispiele und Schlaglichter auf das gesamte Ausmaß

Weitere Infos unter seebruecke.org oder borderline-europe.de