Stichtag der Barbarei

geschrieben von Janka Kluge

29. April 2023

Zuerst brannten die Bücher: Zum 10. Mai 1933 in Nazideutschland

Am 10. Mai 1933 fand eine der ersten Propagandainszenierungen im NS-Staat statt. Bei den in 18 Universitätsstädten organisierten Bücherverbrennungen stand nicht Hitler im Vordergrund, sondern Goebbels. Berichte wurden in der »Wochenschau« in den Kinos und im Radio übertragen. In einer Ankündigung hieß es: »Die Hinrichtung des Ungeistes wird sich zur selben Stunde in allen Hochschulstädten Deutschlands vollziehen. In einer großen Staffelreportage zwischen 11 und 12 Uhr nachts wird gleichzeitig der Deutschlandsender ihren Verlauf (…) mitteilen.« In der Ankündigung wird bewusst auf eine andere Bücherverbrennung Bezug genommen. Beim Wartburgfest 1817 wurden preußische Polizeiverordnungen und zusammengebundenes Papier, auf dem die Namen einiger Schriftsteller standen, verbrannt. In der Ankündigung zur Radiosendung wurde darauf verwiesen: »Und heute steht abermals das Gericht über sie auf, und abermals schichtet der deutsche Bursch ihnen das Feuer der Vernichtung.« Der 1933 vor den Nazis nach Frankreich geflohene jüdische Jurist und Schriftsteller Alfred Kantorowicz nannte die Bücherverbrennung den »Stichtag der Barbarei«.

Die Besten der deutschen Literatur

Es waren die besten der deutschen Literatur, deren Bücher an dem Tag verbrannt wurden. Thomas und Heinrich Mann, aber auch Klaus Mann, Kurt Tucholsky und Erich Kästner, Heinrich Heine und Anna Seghers. Es wurden ebenso Werke von ausländischen Schriftstellern verbrannt. Beispielhaft dafür stehen Ernest Hemingway, Jaroslav Hasek und Alexandra Kollontai. Viele sind geflohen und haben aus dem Exil weiter gegen den Faschismus angeschrieben (siehe Seite 34). Oskar Maria Graf war im Mai 1933 zufällig in Wien. Er erfuhr aus dem Börsenblatt, dass außer »Wir sind Gefangene« keines seiner Bücher verboten wurde. In einem offenen Brief, der in der Wiener Arbeiter-Zeitung abgedruckt wurde, protestierte er dagegen, dass seine Bücher nicht verbrannt worden waren. Unter der Überschrift »Verbrennt mich!« schrieb und forderte er: »Nach meinem ganzen Leben und nach meinem ganzen Schreiben habe ich das Recht, zu verlangen, dass meine Bücher der reinen Flamme des Scheiterhaufens überantwortet werden und nicht in die blutigen Hände und die verdorbenen Hirne der braunen Mordbande gelangen!«

Auf dem Opernplatz, heute Bebelplatz, in Berlin sprach Goebbels selbst die Feuersprüche, mit denen die Bücher auf den errichteten Scheiterhaufen geworfen wurden. Er war am 13. März zum »Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda« ernannt worden. In der Propaganda der NSDAP vor 1933 sind immer wieder jüdische und linke Journalisten sowie Schriftsteller für den angeblichen Verfall Deutschlands verantwortlich gemacht worden.

Erich Kästner schaute mit einem Freund dem schaurigen Treiben zu. In einem Artikel schrieb er 1947: »Der Abend hatte uns die Kehlen zugeschnürt. So einfach war es, eine Literatur auszulöschen. Mit so plumpen, gemeinen Maßnahmen konnten Bosheit und Dummheit triumphieren? So einfach gab der Geist seinen Geist auf?«

»Wider den undeutschen Geist«

Die Bücherverbrennungen sind maßgeblich von der Deutschen Studentenschaft (Dst) und dem Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund organisiert worden. Am 6. April wurden in einem Rundschreiben die Studenten der Universitäten aufgefordert, an der Aktion teilzunehmen. »Die Aktion beginnt am 12. April mit dem öffentlichen Anschlag von 12 Thesen. Wider den undeutschen Geist und endet am 10. Mai mit öffentlichen Kundgebungen an allen deutschen Hochschulorten. Die Aktion wird – in ständiger Steigerung bis zum 10. Mai – mit allen Mitteln der Propaganda durchgeführt werden, wie: Rundfunk, Säulenanschlag, Flugblätter und Sonderartikeldienst der DSt-Akademischen Korrespondenz«. Die Inszenierung stand von Anfang an fest. Die zwölf Thesen hat Paul Schmidt verfasst. In Anspielung auf Martin Luther sollten sie öffentlich angeschlagen werden. Darin wird die Reinheit der deutschen Sprache und der Ausschluss jüdischer Studenten und Professoren verlangt. Nach 1945 machte Schmidt Karriere unter dem Namen Paul Carrel. Er schrieb für Zeit und Spiegel, hat über Jahre den Axel-Springer-Verlag beraten. Bis zu Springers Tod 1985 war er dessen persönlicher Berater und Sicherheitschef. Am 26. April 1933 begannen Studenten und die SA Bibliotheken, Büchereien und Buchhandlungen nach missliebiger Literatur zu durchsuchen. Auf Listen war notiert, welche Bücher beschlagnahmt werden sollen. Auch wenn am 10. Mai der Höhepunkt der Bücherverbrennungen war, gingen sie auch danach weiter. Die letzte fand am 21. Juni in Darmstadt statt.

Im Ausland kam es zu Protesten gegen die Bücherverbrennungen in Deutschland. In New York demonstrierten am 10. Mai nach Presseangaben Hunderttausende in einem Protestmarsch gegen den »Stichtag der Barbarei«. In den Niederlanden sendete Radio Hilversum Auszüge aus den verbrannten Büchern. Der 10. Mai ist seit vielen Jahren der Tag, an dem an die Bedeutung der Meinungsfreiheit erinnert wird.

Vielerorts finden zum 90. Jahrestag der Bücherverbrennungen Veranstaltungen statt. Es ist hier nicht möglich, alle aufzuzählen. In Köln läuft zwischen dem 10. und 17. Mai eine gesamte Aktionswoche zum Thema mit dem Titel »verbrannt & verbannt: Bücher und ihre Autor*innen«. Siehe verbranntundverbannt.info