Zeugnis ablegen
29. April 2023
Zwei Veröffentlichungen zu Erinnerungen aus den KZs
Der österreichische Schriftsteller Helmut Rizy hat in den beiden Bänden »Überleben – um Zeugnis abzulegen« aus gut 200 KZ-Erfahrungsberichten (z. B. aus Romanen, Tagebüchern usw.) Passagen entnommen und mit großem Wissen, Geschick und Einfühlung zusammengestellt. Herausgekommen ist ein Werk, das ein umfassendes Bild vom Leben in den KZs, aber auch danach, abgibt. Oftmals liest man Ergänzendes, wo an anderer Stelle vielleicht Fragen offengeblieben sind. Manches stößt einem auf, wie die Hierarchien (entlang der Nationalitäten oder der Religionen), wird aber an anderer Stelle wieder relativiert. Die Essays zeigen auch auf, wie entscheidend die Intentionen der Verfasser*innen waren. Wann und für wen wurde Zeugnis abgelegt? Gleich nach der Befreiung, oder erst als die Kinder und Enkelkinder danach gefragt haben?
Keine fiktionale Literatur
Alle Texte weisen Fußnoten auf (Band 1: 900, Band 2: 1.000). Man wird förmlich gedrängt, sich einzelne der zitierten Bücher, die einen besonders interessieren könnten, auch zu besorgen. Die Autor*innen stammen aus halb Europa (Hans Beim-ler, Marguerite Duras, Ivan Ivanji, Imre Kertész, Ruth Klüger, Eugen Kogon, Primo Levi, Boris Pahor, Jorge Semprún uvm.). Wichtig: Es ist keine fiktionale Literatur. Alle Texte basieren auf Erfahrungen und Erlebnissen der Autor*innen.
Die von Rizy stammenden Überleitungen zwischen den Zitaten helfen dabei, den roten Faden nicht zu verlieren. Was beiden Bänden leider fehlt, ist eine erklärende Einleitung (oder ein Nachwort) und Untertitel zu den Kapiteln, das schmälert jedoch nicht deren Wert. Obwohl in einem österreichischen Verlag erschienen, sind es keine österreichischen Bücher, sondern internationale.
Ebenfalls im Themengebiet KZ-Literatur bewegt sich die Schriftenreihe der österreichischen KZ-Gedenkstätte Mauthausen zu den Erfahrungen der nach Mauthausen Deportierten. Im Zentrum stehen dabei die ehemaligen Gefangenen und der sprachliche Ausdruck ihrer Erinnerungen als Mittel zur Verarbeitung der Lagererfahrung. Die veröffentlichten Texte sollen die vielfältige nationale, kulturelle und soziale Herkunft sowie die unterschiedlichen Deportationsgeschichten und Haftbedingungen der Gefangenen reflektieren.
Jenseits üblicher Gattungsgrenzen
Sämtliche Formen sprachlichen Ausdrucks sind dabei von Interesse. Publiziert werden Texte mit literarischem Anspruch ebenso wie Autobiografien oder auch sogenannte Ego-Dokumente, die ursprünglich nicht für ein größeres Publikum geschrieben worden sind (wie etwa Tagebücher). Jenseits üblicher Gattungsgrenzen setzt sich die KZ-Gedenkstätte Mauthausen mit der Schriftenreihe »Mauthausen-Erinnerungen« das Ziel, Werke aus dem ganzen Formenrepertoire der »Memoirenliteratur« zu veröffentlichen.
Die Texte beleuchten Fragen, die aus der Extrem-erfahrung KZ-Haft entstehen: Wie schreibt sich diese in die Identität der ehemaligen Gefangenen ein? Wie wird sie als Episode der individuellen Lebensgeschichten erzählt, und welchen Status hat sie innerhalb dieser Erzählung? Inwiefern prägt der biografische Bruch die weitere Lebensgeschichte? Welche unterschiedlichen »Lagerrealitäten« auf Ebene individueller Erfahrungen gibt es? Mit welchen sprachlichen Mitteln wird versucht, dieser Erfahrung Ausdruck zu verleihen? Wie verhält sich die individuelle Darstellung zu kulturell, sozial, national oder anders vorgeprägten Narrativen?
Sehr sowjetisch bzw. »real-sozialistisch«
2022 erschien bereits Band 6 der Reihe mit dem Titel »Soldaten des ›kleinen Kriegs‹« des Ukrainers Vasyl Bunelyk. Mit »kleinem Krieg« meint er den Kampf und Widerstand als KZler bzw. Zwangsarbeiter im Vergleich zum »großen Krieg« der Soldaten der Sowjetarmee. Das Buch erschien 1966 erstmals und ist wenig überraschend sehr sowjetisch bzw. »real-sozialistisch«. Nichtsdestotrotz ist es ein erschreckendes Zeugnis der Nazibestialität.
Helmut Rizy: Überleben – um Zeugnis abzulegen (Band 1). Wieser, Klagenfurt 2021, 517 Seiten, 21 Euro und 2. Band, 2022, 520 Seiten, 26 Euro