In Diktatur getrieben
11. Juli 2023
Studie zur »Machtergreifung« von Faschisten im ländlichen Raum
20 Jahre nach dem Ende der NS-Diktatur veröffentlichte William Sheridan Allen 1965 seine Studie über den Aufstieg der NSDAP in der norddeutschen Kleinstadt Northeim, 1966 erschien sie in deutscher Sprache. Der Autor (1932–2013) studierte unter anderem an der FU Berlin und in Göttingen. Northeim liegt in der Nähe des Harzes. Allen nannte es »Thalburg«. Ihn bewegte, wie eine Demokratie lokal in die Diktatur getrieben werden konnte. Es gab erste Studien zur »Machtergreifung« der Faschisten im ländlichen Raum, jedoch keine lokalen Analysen des Zeitraums von 1930 bis 1935. Insofern war seine Arbeit eine Pionierstudie.
Versiebenfachter NSDAP-Wähleranhang
Den untersuchten Zeitraum teilte Allen in die Perioden vor dem 30. Januar 1933 und in die der Errichtung der Diktatur und die Festigung der NS-Macht (1933–1935) ein. Erinnern wir uns: Als am 14. September 1930 der Reichstag neu gewählt wurde, versiebenfachte sich der Wähleranhang der NSDAP von 2,6 auf 18,3 Prozent. Sie stellte nun nach der SPD die zweitstärkste Fraktion im Reichstag. Die SPD beging den Fehler der »Tolerierung« der Notverordnungspolitik des »Hungerkanzlers« Heinrich Brüning, die Parteilinke trug diese Politik nicht länger mit, ihre Repräsentanten um Kurt Rosenfeld und Max Seydewitz wurden ausgeschlossen und gründeten im Oktober 1931 die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP), die allen Bemühungen um ein gemeinsames Vorgehen der Arbeiterparteien zum Trotze relativ erfolglos blieb.
Parallel zu den Differenzierungsprozessen in der Arbeiterbewegung vollzog sich ein Sammlungsprozess der Rechten. Scheiterte im Oktober 1931 noch der Versuch der von Alfred Hugenberg dominierten DNVP, in der »Harzburger Front« die NSDAP an die konservative Rechte zu binden, näherten sich die Konzepte aller Rechten seit 1932 immer stärker einander an. »Jungkonservative« und von ihnen Beeinflusste, Antidemokraten oder Erzkonservative sinnierten, wie der Parlamentarismus durch einen »neuen Staat«, eine Präsidialdiktatur, ein Ständesystem oder durch ein »Drittes Reich« beseitigt werden könnte. Mittendrin Prinz Wilhelm von Preußen. Zu diesen Kräften ist in Northeim/Thalburg der »Jungdeutsche Orden« zu zählen.
Keine tiefgreifenden Erfolge
Die Arbeiterbewegung blieb gespalten. Partielle Einheitsfrontbestrebungen von SPD, KPD und Gewerkschaften sowie der SAP, aber auch die Antifaschistische Aktion blieben ohne tiefgreifende Erfolge. Der BVG-Streik und andere Kämpfe trieben die gesamte Rechte zur Eile an. Am 30. Januar 1933 wurde die »Regierung der nationalen Konzentration« vereidigt. All dies bildet den Rahmen für William Sheridan Allens Studie über Northeim. Es zählte in den 1930er-Jahren etwa 10.000 Einwohner, eine typisch deutsche Kleinstadt. Allens stadtgeschichtliche Beschreibungen betonen, dass Thalburg immer zwischen Isolierung und Öffnung schwankte, im Kern aber zur Isolierung neigte und durch die Jahrhunderte hinweg Traditionalismus und Konservatismus pflegte. Zu Recht diagnostiziert er mit Blick auf die politische Kultur Thalburgs und den Weg in den Führerstaat: »Obwohl Thalburg aussah wie eine Stadt aus dem Bilderbuch und der Welt scheinbar so fern lag, fanden sich in dieser Kleinstadt all die gegensätzlichen Überzeugungen und Spannungen der Weimarer Republik.« Die soziologische Zusammensetzung der Bevölkerung dämpfte zunächst die Folgen der Weltwirtschaftskrise: Öffentlicher Dienst, Eisenbahn und Landwirtschaft prägten Stadt und Umland, ein gewisses Maß an Selbstversorgung mit Lebensmitteln bremste hier die Verarmung. Doch die rechtslastigen Organisationen bestimmten nach 1930 mehr und mehr das Denken des Bürgertums. Es waren in Northeim bzw. Thalburg vor allem bürgerliche protestantische Vereine, die den Nazis den Weg ebneten bzw. bei den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 in großen Scharen zur NSDAP überliefen.
Wenn der »Kitt« des Gemeinwesens wegbricht
Das Buch von William Sheridan Allen seziert – auch über die Interviews – das Potenzial für destruktive und dramatische Entwicklungen in Situationen, in denen der »Kitt« eines Gemeinwesens wegbricht. Wenn dann das Feindbild und die Kasse stimmen, verstummen auch bislang konservative biedere Bürgerinnen und Bürger, die sich bis dahin zu fein für politische und physische Gewalt waren. Sie stehen stellvertretend für den Opportunismus des Bürgertums in Northeim; ihre Namen und Handlungen hat Allen rekonstruiert bzw. in Interviews eingebunden und mit Pseudonymen versehen. In der Neuauflage sind die Klarnamen angefügt.
Die Buchmacherei zeigt mit der Wiederveröffentlichung von »Das haben wir nicht gewollt!« von William Sheridan Allen, dass der Schoß, aus dem der Faschismus kroch, noch immer fruchtbar ist und aus der Mitte und von rechts der Gesellschaft fleißig gedüngt wird. Die erste Auflage hatte einer der NS-Beteiligten weitgehend aufgekauft. Die Neuausgabe entpuppt sich regional als Renner. Schweigen hält nicht ewig!