Zwischen kritisch und toxisch
11. Juli 2023
Buch zu Männlichkeiten und der Auseinandersetzung mit dem Patriarchat
Es wird in letzter Zeit richtigerweise viel über Männlichkeiten und die Auseinandersetzung mit dem Patriarchat gesprochen und geschrieben. Das ist gut und wichtig, häufig aber auch eher akademisch oder analytisch geprägt. Die Auseinandersetzung mit Männlichkeiten bleibt dabei eine ernste Angelegenheit zwischen kritischer Betrachtung und toxischer Manifestation.
Wie wird Männlichkeit hergestellt?
Erfrischend witzig, zugänglich und in eindrücklichen Textpassagen kommt dagegen Daisy Letourneurs Buch »Man wird nicht als Mann geboren« daher. Angelehnt an Simone de Beauvoirs vielzitierte Aussage aus »Das andere Geschlecht« zeigt Daisy Letourneur den Konstruktionscharakter von Männlichkeit auf. Die französische trans Autorin, die sich seit 2017 in ihrem Blog »Die Mainsplainerin« (angelehnt an Mansplaining, also das ungefragte Erklären durch cis Männer) mit Männlichkeiten und Feminismus beschäftigt, reitet durch Philosophie, Biologie, Psychologie und Sozialwissenschaften in einer Geschwindigkeit, in der manchmal die Tiefe verloren geht, allerdings ein überaus breiter Einblick gegeben wird, wie Männlichkeit hergestellt und männliche Macht aufrechterhalten wird.
Das Buch ist in vier Abschnitte gegliedert. Im ersten Teil wird einführend die soziale Konstruktion von Männlichkeit, also ihre Herstellung in alltäglichen Praxen und durch kulturelle Bilder mit den Theoretiker_innen Judith Butler und Raewyn Connell erklärt. Im zweiten Teil des Buches mit dem treffenden Titel »Was man über Männer sagt« geht Letourneur auf unterschiedliche Vorstellungen von Männern ein. Sie diskutiert die Frage,warum eigentlich Männern Reife zugesprochen wird (und Frauen Verantwortung), wie Jungen lernen, dass Gefühle vergeschlechtlicht bzw. weiblich sind und sie daher gleichmütig zu sein haben, und wie das Konzept der »Neuen Väter« eine Gleichberechtigung vorgaukelt, die keine ist. Feinsinnig argumentiert sie für neue Elternschaft und zeigt die Widersprüchlichkeit der Diskurse um die Wichtigkeit von Vaterschaft auf, die sich auf der einen Seite in der Ablehnung von künstlicher Befruchtung, auf der anderen Seite in der hohen Anzahl alleinerziehender Mütter zeigt, in denen die Väter sich ihrer Vaterrolle entziehen (oder argumentiert wird, dass gewalttätige Väter besser sind als gar keine).
Häufig sehr binär
Im dritten und vierten Teil schreibt Letourneur über das Verhältnis unter Männern und zu Frauen. Für eine Person, die aus einer trans Perspektive schreibt, wirkt dies häufig sehr binär, und gleichzeitig ist genau diese Perspektive Letourneurs so wertvoll, da sie ihre eigene Verletzlichkeit und ihre Reflexionsprozesse aufzeigt und dabei auch auf lesbische Perspektiven eingeht. Der literarische Ritt auf dem Rücken der Männlichkeit geht weiter zu den Themen (Homo)Sexualität, Heldentum, Antifeminismus und Gewalt. In persönlichen Anekdoten, unterhaltsamen selbst gezeichneten Comics und unter Bezugnahme auf feministische Theorien bietet Daisy Letourneur eine Bündelung und Überarbeitung ihrer Blogtexte an und und fragt nicht nur, wie Männer zu Männern gemacht werden, sondern auch, welche Bilder eines »echten Mannes« durch alltägliches Verhalten aufrechterhalten werden. Denn auch, wenn sich Männlichkeitsvorstellungen in den letzten Jahrzehnten verändert haben, so haben sich patriarchale Macht- und Herrschaftsverhältnisse noch lange nicht gewandelt. Letourneur gibt jedoch den Ausblick, dass es eine Zukunft geben kann, in der Geschlecht nicht mehr in der gleichen Form eine Rolle spielt wie heute. Wenn wir kollektiv daran arbeiten.
Zerschlagung des Patriarchats nötig
In der deutschen Übersetzung wurden die oftmals französisch und englischsprachigen weiterführenden Literatur- und Webhinweise durch deutsche Texte im Themenfeld ergänzt. So ergibt sich für jedes Thema die Möglichkeit, sich damit vertiefend weiter zu beschäftigen. Daisy Letourneur sagt klar, dass das Buch keine Gebrauchsanweisung für individuelle cis Männer ist, um sich persönlich weiterzuentwickeln, da es nicht das Wohlfühlen im Patriarchat, sondern dessen Zerschlagung braucht. Und doch bietet das Buch einen niedrigschwelligen Einstieg für Menschen, die sich gern stärker mit Männlichkeiten auseinandersetzen wollen. Und das auch noch in einer hübschen, farbenfrohen Umschlaggestaltung.