Große Staatsnähe

geschrieben von Brigitte Müller

14. September 2023

Leserbrief zu antifa Juli/August 2023, Seite 33, Demokratische Militarisierung?

Aus unserer Sicht erscheint mir Eure Kritik an arte durchaus berechtigt, doch hat dieser Kanal auch eine französische Seite, die näher beleuchtet werden sollte:

arte existiert auf der Grundlage eines Staatsvertrages zwischen Deutschland und Frankreich. Dabei werden zwei verschiedene Formen der nicht-privaten Medien kombiniert: In Deutschland haben wir die öffentlich-rechtlichen Medienanstalten nach dem Muster der BBC. In Frankreich hingegen gibt es nur private und staatliche Medien, wobei die französischen TV-Kanäle von France Télévisions, einer Aktiengesellschaft zu 100 Prozent im Staatsbesitz, verwaltet werden. In Frankreich sind die staatlichen TV-Kanäle nationalistisch, grottenschlecht, in meinem Augen zynisch, gar pervers. Das liegt einerseits an deren zu großer Staatsnähe, aber auch an der Definition von Pressefreiheit in Frankreich. Auf Wikipedia »Pressefreiheit« heißt es im Absatz »Frankreich«:

»Seit der Verfassungsänderung von Charles de Gaulle für die Fünfte Französische Republik wurde die Funktion der Journalisten als affirmativ festgelegt. Die Medien sind per Verfassungsdekret zur Unterstützung der jeweiligen Regierungspolitik verpflichtet. Die Techniken für investigative Recherchen oder kontroverse Interviews sind in der Ausbildung von Journalisten nicht vorgesehen wie etwa beim ›Centre de Formation des Journalistes‹ (CFJ), das die meisten Redakteure in den staatlichen Medien absolviert haben.«

Was Wikipedia in diesem Zusammenhang jedoch nicht erwähnt: Die Gründung der Fünften Französischen Republik war unter anderem eine Antwort auf die Gefahr eines Militärputsches im Rahmen des Algerienkrieges.*

In Frankreich bedeutet Pressefreiheit also nicht das Recht auf Kritik an der Regierungspolitik. Man darf sich höchstens darüber lustig machen, denn Humor kann man nicht verbieten. So kommt es, dass beispielsweise die satirische Wochenzeitung Le Canard enchaîné in Frankreich als hochgelobtes Beispiel für Pressefreiheit gilt, bei uns höchstens Unterhaltungswert besäße. Auch Charlie Hébdo hat sich mit seinen Mohammed-Karikaturen dieser Pressefreiheit bedient. Bei uns heutzutage (!!!) wäre so etwas islamophobisch-rassistisch. In Frankreich ist das allerdings gute, laizistische Tradition, seitdem Georges Clemenceau vor dem Ersten Weltkrieg den Laizismus gegen große Widerstände des Klerus durchgesetzt hatte. Mich als Deutsche erinnern solche Karikaturen allerdings stark an antisemitische Verunglimpfungen aus unseren dunkelsten Zeiten.

Also hat arte im Grunde genommen nicht das Recht, französische (!!) Regierungspolitik zu kritisieren, obwohl sie in Straßburg genau wissen, was in Paris los ist. Ich habe bei arte allerdings so eine Art listenreiche »Sandwich-Methode« festgestellt: Ein unkommentierter Beitrag über Frankreich wird zwischen äußerst kritische Beiträge über andere Länder gepackt. Der Zuschauer muss dann leider zwischen den Zeilen lesen und selbst urteilen. Letzteres sind wir nicht gewohnt, im Gegenteil: Wir bekommen oft das (Vor)Urteil in ganzer Breite geliefert. So kritisiert arte beispielsweise in der Doku »Der schwarze Aufstand« ganz heftig Rassismus, zunächst den in den USA. Dabei wird absichtlich mehrfach das Video von Floyds Tötung abgespielt, unmittelbar gefolgt von einem Beitrag aus Frankreich, in dem die Schwester von Adama Traoré Zweifel über die angebliche Todesursache ihres Bruders äußern durfte. Adamas Schwester ist dabei sehr absichtlich auf dem Vorschaufoto der arte-Doku zu sehen! Ihr Bruder wollte nämlich auf dem Bürgeramt eigentlich nur seinen neuen Pass abholen, wurde unterwegs allerdings von der Polizei verhaftet, weil er keinen hatte und erstickte auf dem Amt an »nicht verbotener Polizeigewalt«. Frankreichs »George Floyd« hat das Gesicht von Adama Traoré, doch kein Schwein berichtet darüber, nur arte, und das auch nur sehr vorsichtig und so ganz nebenbei! Und in der gleichen Doku kritisieren schwarze Deutsche und offizielle (!!!) Polizeivertreter vehemend das »racial profiling« bei uns! In Frankreich kommen viele Menschen in Polizeigewahrsam um! Kenner wissen, dass die französische Polizei die tödlichste in ganz Europa ist. arte weiß das auch, benutzt daher auch in seinem abendlichen »journal« die »Sandwich-Methode«. Leider sind diese interessanten kleinen Beiträge von Ende Juni 2023 nicht mehr im Netz verfügbar.

So kommt es, dass Frankreich im Namen der Pressefreiheit arte verbieten darf, wider besseres Wissen über die mordende Polizei zu berichten! Da nehmen Betroffene das halt selbst in die Hand. Nun ist Nanterre kein »bidonville«, das heißt kein französischer Slum-Vorort, wo Menschen wohnen, die man über den Haufen schießen darf und kein Hahn kräht danach. Nein, Nanterre, das ist ein Vorort, dessen glitzernde Skyline ganz klar am Horizont zu sehen ist, wenn man vom Louvre aus Richtung Eiffelturm und weiter schaut. Nanterre hat moderne IT-Unternehmen, eine linke Uni, die sich nach den Unruhen von 1968 von der verstaubten Sorbonne abspaltete und vieles andere mehr. Nanterre ist also kein Armenvorort, der sich einfach so ungestraft abhängen lässt! In Nanterre herrscht eine neue, selbstbewusste Mittelschicht.

* bpb.de/themen/europa/frankreich/505860/der-algerienkrie