Komplizenschaft von unten
5. November 2023
Vertreter von Chiles Modatima-Bewegung reisen durch die BRD. Ein Gespräch
antifa: Ihr habt euch an der Ausarbeitung der neuen Verfassung maßgeblich beteiligt. Unter anderem die Privatisierung des Wassers sollte beendet werden. Dazu ist es nicht gekommen. Wie hart trifft euch die Niederlage?
Victor Bahamonde: Der verfassunggebende Prozess, der 2020 eingeleitet wurde, war ein Kompromiss, um eine Staatskrise abzuwenden. Doch die Energie der sozialen Bewegungen in der Stadt und auf dem Land, die uns erst dahin gebracht hat, ist durch die Ablehnung der Verfassungsreform nicht verpufft. Wir arbeiten zusammen mit vielen anderen daran, das Land weiter zu demokratisieren. In Chile herrscht eine absonderliche Demokratie der wenigen, während für den Großteil der Bevölkerung weiterhin die Diktatur das Leben bestimmt. Der Zugang zu natürlichen Ressourcen wie Wasser und Land, aber auch generell zu den Gemeingütern, ist unglaublich beschränkt. Aktuell kämpfen wir um ein Wassergesetz. Aber es ging ja nie nur um das Wasser. Das Wasser ist vielmehr ein Synonym für die Ausplünderung des Landes und die Unterdrückung der Landbevölkerung. Die Wasserknappheit führt zu ständiger Vertreibung und Leid. Das ist ein starkes Mobilisierungsthema in den Gemeinden, weil die Industrie, der Immobiliensektor, die Land- und Forstwirtschaft und vor allem der Bergbau sehr viel Wasser verbrauchen, während die Kleinbauern darben. Unsere Analyse der Niederlage beim Referendum ist vielfältig. Unsere Strategie wird sich aber nicht ändern: Wir sammeln Informationen zur Plünderung und Vertreibung, machen diese Vorfälle bekannt, flankieren mit Bildungsangeboten, und das schafft die Grundlage für eine Basisorganisierung und Massenmobilisierung. Diese Mobilisierungen haben meist regionale Schwerpunkte, aber können auch landesweit Druck entfalten. Eine Voraussetzung für den Erfolg unserer Bewegung ist unsere Vielstimmigkeit und die ständige Verhandlung der zentralen Fragen: in welchem Land wir leben wollen und auf wessen Kosten gewirtschaftet wird.
antifa: Aktuell gilt noch die Verfassung aus der Zeit der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet (1973–1988). Die noch junge Demokratie tut sich offenbar weiterhin schwer, die Zeit aufzuarbeiten und Schlüsse für das politische System zu ziehen. Ist aus der Autokratie eine Oligarchie mit demokratischen Elementen geworden?
V. B.: Auf unserer Reise durch Deutschland wurden wir oft gefragt, warum wir auf den Rechtsstaat setzen, obwohl doch so viel Unrecht in Chile geschieht und die meisten Täter davongekommen sind. Darauf möchte ich antworten: Der Rechtsstaat in Chile ist noch sehr jung – aber er existiert. Die ökonomische und politische Macht ist weiterhin zentralisiert, die Repression gegen soziale Bewegungen ist hart, aber es gibt auch rasante Veränderungen in der Mentalität der Protestierenden. Die Revolte von 2019 war für unser Selbstbewusstsein wichtig. Doch eine Gesellschaft lässt sich nicht allein durch den Aufstand verändern. Vielmehr braucht es ein tiefgreifendes Verständnis davon, wie sich Chile entwickelt hat und wo es hinführt, wenn wir nicht gegensteuern. Und dafür braucht es eine Strategie, die viel mit Aufklärung und Erfahrung zu tun hat, wie wir uns in kleinen und großen Konflikten gegen die Macht durchsetzen können. Wir kombinieren Basisarbeit mit dem institutionellen Weg. Zum Beispiel bringen wir uns in den Regionalregierungen ein und schaffen parallel dazu basisdemokratische Strukturen wie die Flussgebietsräte. Die Wunden der Diktatur liegen noch offen, ohne dass darüber gesprochen wird. Die Figur Pinochets polarisiert weiterhin das Volk. Er wird verherrlicht, während seine Opfer aus einem Fonds Hilfen für die Folgen ihrer Behandlung erhalten. Das Militär schweigt zu dieser Ära, während es gleichzeitig das große Museum der Erinnerung und Menschenrechte in Santiago gibt, das über die Zeit aufklärt.
antifa: Das Ziel der Reise nach Deutschland ist Erfahrungsaustausch und Vernetzung der Kämpfe gegen die Zerstörung der Natur.
V. B.: Ja, wir denken, dass die Demokratiebewegung in Deutschland unseren Input braucht, da wir den Eindruck haben, dass hier alte Fehler wiederholt werden, ohne dass es hier dazu eine Diskussion gibt. Wir stehen in Chile vor neuen Gefahren für unsere Natur und Zukunft, deren Ursprung in der grünen Technologiewende zu suchen ist. Bei euch und in anderen Teilen der Welt entsteht gerade ein neuer Wirtschaftszweig, um den Klimawandel durch Technologie aufzuhalten. Viele der Rohstoffe, die dafür gebraucht werden, kommen aus Ländern wie Chile, wo die Leidtragenden des neuen Extraktivismus nicht danach gefragt werden. Das wird unsere Probleme verschärfen, das Wasser weiter vergiften und die Vertreibung vorantreiben. Darüber wollen wir hier aufklären und schlagen einen langfristigen Dialog der Zivilgesellschaften über Alternativen und eine neue Komplizenschaft von unten vor, um die Staaten und die Firmen an dieser neuen Etappe der Ausplünderung gemeinsam zu hindern. Der gemeinsame Standpunkt ist die Erhaltung der Biodiversität und letztlich der Menschheit.
Mit 62 Prozent der abgegebenen Stimmen wurde im September 2022 in Chile der Vorschlag einer neuen Verfassung abgelehnt. Diese sollte die Bestimmungen von 1980 – aus der Zeit der Militärdiktatur unter Pinochet – ablösen. Die neue Verfassung sollte Verbesserungen für das Selbstbestimmungsrecht der indigenen Gemeinschaften, für den Umweltschutz, garantiertes Recht auf Wohnraum, Bildung, Gesundheit und das Recht auf straffreien Schwangerschaftsabbruch beinhalten.
Das Interview führte Nils Becker.