Rätselraten in Polen
5. November 2023
Kommt es zum Regierungswechsel in Warschau? Zur Wahlniederlage der PiS
Zwei Legislaturperioden hat die nationalkonservative PiS (Prawo i Sprawiedliwość, deutsch: Recht und Gerechtigkeit) Polen regiert. Und das mit absoluter Mehrheit. Das hatte ihr erlaubt, das politische System nachhaltig zu verändern, vor allem wurde die Gewaltenteilung eingeschränkt. Die Einführung einer Disziplinarkammer erlaubte es, unliebsame Richter aus der Justiz zu entfernen. Gleichzeitig wurden höchste Richterposten mit Parteivertretern bestückt. Nächster Schritt war die Einhegung der Medien: Beim vorher öffentlich-rechtlichen Rundfunk hatte nun der Staat das Sagen. Intendanten und Chefredakteure wurden vom Finanzminister ernannt. Die einst teilweise in Händen von deutschen Konzernen befindlichen Regionalzeitungen wurden unter Druck von Staatsbetrieben übernommen. Den größten Protest in der polnischen Bevölkerung erzeugte jedoch die faktische Abschaffung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch. Dabei war die PiS ursprünglich aus Protest gegen die extrem wirtschaftsliberale Politik der von Donald Tusk geführten Regierung gewählt worden. Sie trat an, um soziale Härten abzufedern, und führte eine Reihe von neuen Sozialleistungen ein.
Persönliche Beleidigungen im Wahlkampf
Im Vorfeld der diesjährigen Wahlen waren nicht nur Leistungen und Gegenpositionen in der öffentlichen Meinung angekommen, sondern vor allem persönliche Beleidigungen. Tusk, der aus der Minderheit der Kaschuben stammt, war in zahlreichen PiS-Werbespots als deutschsprachiger Agent der von Deutschland geführten EU diskriminiert worden. Überhaupt gab es in den Staatsmedien einen massiven antideutschen Wahlkampf. Das war eine Situation, die vor allem junge Leute beunruhigte. Sie befürchteten zunehmend eine Anti-EU-Stimmung, die zum Austritt aus der EU (Polexit) führen könnte.
So gab es bereits zu Beginn des Wahlkampfs Anfang Juni eine machtvolle Demonstration in Warschau mit rund 500.000 Teilnehmenden; diese machten aus ihrer Kritik und Ablehnung der Regierungspolitik keinen Hehl. Der Gegner, das Regierungslager, war sichtlich getroffen. In einer Sendung des Regierungsfernsehens wurde am Tag der Demo, einem Sonntag, breit von den polnischen Familien berichtet, die im ganzen Land das schöne Wetter genutzt hätten, um sich von den Anstrengungen der Arbeits- und Schulwoche auszuruhen. Und nur eine Handvoll Schreihälse sei dem Unruhestifter Tusk gefolgt, um gegen die bewährte Regierungspolitik zu krakeelen …
Unsicherheit über den Wahlausgang brachte also nicht die Stimmung in der Bevölkerung, sondern die Auseinandersetzungen innerhalb der Opposition. Zunächst war befürchtet worden, dass das liberale Dreiparteienbündnis »Bürgerkoalition« (Koalicja Obywatelska, KO)1 unter Führung von Tusk zwar stark abschneiden würde, dies aber ohne mögliche Koalitionspartner wieder zu einer absoluten Mehrheit der PiS führen könnte. Doch die Opposition konnte sich in den letzten Monaten anders präsentieren.
Nur ein Oppositionskandidat
Vor allem für die zweite Kammer, den Senat, gelang eine Vereinbarung zwischen KO, der neuen Bewegung »Dritter Weg« (Trzecia Droga, TD)2 und den Linksparteien »Lewica«, insgesamt einer Gruppe von neun Parteien, für das für diese Kammer geltende Mehrheitswahlsystem jeweils nur einen Oppositionskandidaten aufzustellen. Tatsächlich traten diese dann im Wahlkampf nicht als Parteienvertreter, sondern als »Kandidaten der Opposition« auf. Interessant, dass in vielen Familien und Freundeskreisen auch für den Sejm, die erste Kammer des Parlaments, »taktisch« gewählt wurde. So verabredete man, dass beispielsweise ein Familienmitglied für die stärkste Oppositionspartei, ein anderes für eine der kleineren stimmen werde, um so den Einzug von Koalitionspartnern in das Parlament zu sichern.
Es gab vor allem zwei Gründe für den Wahlausgang: die Jugend, die in wesentlich größerer Zahl zur Wahlurne ging (höchste Wahlbeteiligung seit Ende des Sozialismus), und ein breiter Ärger über die populistische Stimmungsmache der Regierung. Dennoch wird es nicht einfach, nun eine Regierung zu bilden. Zum einem wird der Präsident Andrzej Duda (ein Vertreter der PiS) erst einmal den Regierungsauftrag an die PiS, die auch bei dieser Wahl die meisten Stimmen erzielte, vergeben. Erst wenn es ihr nicht gelingt, Koalitionspartner zu finden, was zu erwarten ist, kann der Auftrag an die Opposition gehen. Doch die drei Gruppen der Opposition sind vielleicht weiter auseinander als die deutsche »Fortschrittskoalition«. Sie einigt eigentlich nur der Wille, die PiS abzulösen, einen Teil der Veränderungen durch die letzte Regierung rückgängig zu machen, und den »Abtreibungskompromiss« von 1993 zu sichern. Ob der Präsident entsprechende Gesetze der neuen Mehrheit unterzeichnet oder sein Veto einlegt, ist nicht klar. Doch wird vermutet, dass er sich mit einer neuen Regierung gut stellen will, da er Pläne hat, nach dem Ende seiner Amtszeit 2025 für ein internationales Amt (UNO oder EU) zu kandidieren. Das würde ohne Regierungsunterstützung kaum gelingen.
Kommt es zum Regierungswechsel in Polen? Ja, ziemlich sicher. Für viele eine Überraschung, und tatsächlich war es bis zuletzt nicht sicher, dass es gelingen würde. Die Gründe für den Sieg der Opposition sind vielfältig.
Wahlergebnis bei den Parlamentswahlen am 15. Oktober in Polen in Prozent (Vergleich zur Wahl 2019)
PiS 35,4 (-8,2)
KO 30,7 (+3,3)
Dritter Weg/TD 14,4 (+5,8)
Linksparteien Lewica 8,6 (-4)
Rechtsparteien KON 7,2 (+0,4)
Andere 3,7 (+2,7)
Wahlbeteiligung: 74,38 Prozent
1 Die KO besteht aus der liberal-konservativen Partei Platforma Obywatelska (Bürgerplattform), der wirtschaftsliberalen Partei Nowoczesna (Moderne) und der Partei Zieloni (Grüne)
2 Die TD ist ein Bündnis aus Grünen mit christdemokratischen Grundsätzen, der polnischen Bauernpartei und liberal-konservativen EU-Befürwortern