Flucht und Abenteuer
2. März 2024
Chronologie einer Heimkehr: Hans Lauters Flucht nach Osten
Ein flüchtiges Blättern in dem rund 100 Seiten starken Bändchen vermittelt den Eindruck, als würde es sich um ein Tagebuch handeln, mit Datums- und Zeitangaben. Doch schon die ersten Zeilen machen deutlich, dass hier eine Sicht von außen auf Vorgänge in den letzten Tagen des untergehenden faschistischen deutschen Reiches angeboten wird. Beschrieben wird von Michael-Alexander Lauter auf der Grundlage langer Gespräche, von Besuchen an authentischen Orten und mit Unterstützung von Dokumenten die gefährliche und abenteuerliche Flucht des kommunistischen Widerstandskämpfers Hans Lauter (22.12.1914–31.10.2012) aus der Zuchthaushaft zu denen, die die Befreiung brachten, die -sowjetische Rote Armee, nach Osten. Nein, es gab kein Tagebuch als Vorlage. Dennoch verdient die mühselige Recherche von Michael-Alexander Lauter unsere Hochachtung, wie viel Tee ist da wohl am Küchentisch mit seinem Schwiegervater Hans getrunken worden?
Uns begegnen zwei Ebenen: Einmal die chronologische Darstellung der Flucht, beginnend im April 1945, als Nazideutschland in den »letzten Zügen lag«, bis zum Juni 1945, den ersten Tagen nach der Befreiung, mit den Augen des aufmerksamen Zuhörers und unerbittlich Fragenden. Dazu kommen als zweite Ebene Rückblenden. Gerade diese Rückblenden auf die Haftzeit und die Vorbereitungen der Flucht machen die dann beschriebenen Vorgänge erst verständlich. Wie kam der Zuchthaushäftling Hans Lauter als Volkssturm-Mann an einen Karabiner? Bei welcher Gelegenheit hat er einige Worte Russisch lernen können, um sich dann den Soldaten und Offizieren der Roten Armee verständlich machen zu können? Gesondert als »Tagebuch« gekennzeichnete Teile vermitteln den Eindruck, dass Hans Lauter doch stückweise Notizen hinterlassen haben könnte.
Schnelle Auffassungsgabe und Fingerfertigkeit
Die Odyssee von Hans führt nach der Verhaftung und Verurteilung vor dem Volksgerichtshof in die Moorlager im Emsland, dann über das Zuchthaus Waldheim zu Aufräumarbeiten in das zerstörte Dresden. Das Räumkommando der Häftlinge für Dresden war in Meißen notdürftig untergebracht und hatte jeden Tag mit dem Zug in die Stadt zu fahren. Kurze Zeit später wurden die Häftlinge in das Amtsgericht Radebeul verlegt, auch dort unter chaotischen Verhältnissen. Die schnelle Auffassungsgabe und Fingerfertigkeit von Hans brachte es im Aufräumkommando mit sich, dass er zu besonders anspruchsvollen Aufgaben eingesetzt wurde. Damit konnte er leichter Kontakte knüpfen und unbemerkt Fluchtvorbereitungen treffen.
Am 3. April 1945, einen Tag nach der Umstellung der Uhren von der Winter- auf die Sommerzeit, gelang die Flucht gemeinsam mit einem Mithäftling. Dabei lief das Ganze völlig unspektakulär beim morgendlichen Kaffeeholen ab, ohne Gewaltanwendung und dramatische Verfolgungsjagden – natürlich mit viel Herzklopfen und Furcht vor Entdeckung. Die Flucht führt durch das zerstörte Dresden, mit vielem Hin und Her zu Hans’ Onkel Karl. Weiter geht es in Richtung Lausitz, nach Merzdorf, zu seiner Schwester. Mit deren Hilfe gelingt es, Hans in das »normale« Leben der letzten Kriegswirren in Merzdorf einzugliedern. Menschen- und Sprachendurcheinander machen es möglich. Er schlüpft kurzzeitig sogar in die Rolle eines an TBC erkrankten Parteigenossen und wird für wehrtauglich befunden.
Für Hans ist klar: Nur weg von hier!
Ironie des Schicksals: Der zu Zuchthaus verurteilte Widerstandskämpfer wird als Volkssturm-Mann an Panzerfaust und Karabiner ausgebildet! Doch für Hans ist klar: Nur weg von hier! In Schleife trifft er auf die ersehnte Rote Armee. Ist das die ersehnte Freiheit oder das Ende? Hoffen und Bangen halten sich die Waage. Sein ausgezeichnetes Gedächtnis bringt zu guter Letzt die Erlösung: Hans kann haargenau die Trauerzeremonie zur Beisetzung von Kirow 1934 in Moskau schildern. »Das kann nur einer von uns sein!«, stellen die Verhörenden der Roten Armee fest. Der abenteuerlichen Flucht zu Fuß, nachts, folgt jetzt die Fahrt auf einem Armee-Lkw in Richtung Berlin, als Genosse der Befreier. In Bad Liebenwerda muss er seine Truppe weiterziehen lassen, er bleibt zurück und hilft beim Aufbau einer antifaschistischen Verwaltung. Das ist am 28. April. Da ist noch kein Monat seit der Flucht vergangen, und Hans macht sich auf die Suche nach verlässlichen Mitstreitern. Mit dem 1. Mai 1945 beginnen Tagebuchnotizen in der Ich-Form. So könnte es Hans erlebt haben. Seine ersten Schritte beim Neuaufbau einer Verwaltung und Parteistruktur werden begleitet, bis zu seiner glücklichen Rückkehr nach Chemnitz.
Das Buch hilft auf seine Art, die Lücke, die durch den Verlust von Zeitzeugen entstanden ist, etwas zu füllen. Die sehr persönliche Sicht kann aus Monumenten Menschen entstehen zu lassen. Menschen, mit denen man sich einlassen kann, mit den man leiden und lieben kann.
Ein Hinweis für alle Interessierten: Michael-Alexander Lauter plant und organisiert eine Lesereise mit dem Buch entlang der Fluchtroute. Vielleicht möchten Sie eine Lesung durchführen oder den nächstgelegenen Ort einer Lesung erfahren, dann wenden Sie sich an den Autor über micha-lauter@online.de