Hilfe für Gefährdete
4. Juli 2024
»Arzt in den Höllen«: Zur Geschichte eines Buchs des Widerstandskämpfers Fritz Lettow
»Another SS-man at Buchenwald who was responsible for many deaths and in fact was commonly known as ›Killer of Buchenwald‹ is: SS-Hauptsturmführer Eisele (…). He was feared by all the prisoners. He (…) selected strong healthy men, took them to the hospital and gave them injektions which killed them.«1
So eine Passage in dem Protokoll der Aussage von Dr. Fritz Leo vom 5. Juni 1945 vor britischen Militärs in Bergen-Belsen.
In seinen Erinnerungen »Arzt in den Höllen« liest sich die Charakteristik nicht anders: »Dr. Eisele machte sich ein Vergnügen daraus, kräftige Kerle (…) von der Lagerstraße weg ins Revier zu holen und sie mit einer Spritze zu erledigen …«
Fritz Leo hatte, weil er Gefährdeten geholfen hatte, aus Deutschland in die Tschechoslowakei zu fliehen, zehn Jahre lang, von 1935 bis 1945, in den KZs Buchenwald, Natzweiler-Struthof im Elsaß, Sachsenhausen und Bergen-Belsen zubringen müssen. Als Häftlingsarzt mühte er sich nach Kräften, wie nach der Befreiung mehrere Leidensgefährten bezeugten, den Mitgefangenen ihr Los einigermaßen zu erleichtern. Im ersten Kriegsverbrecherprozess auf deutschem Boden ab dem 17. September 1945 in Lüneburg war Leo einer der Hauptzeugen.
Unmittelbar nach der Befreiung begann er mit der Aufzeichnung seiner noch frischen Erinnerungen. Mit großer Aufrichtigkeit, noch in einer Sprache, die heute grob und unwirklich erscheint, fasste er auch heiße Eisen des KZ-Systems an, die in der DDR-Literatur und -Dokumentation als Tabus galten, die im Westen, wenn überhaupt, meist antikommunistisch verzerrt und mit feindseliger Arroganz wiedergegeben wurden und nun wieder werden.
Sein Bericht ist eine flammende Anklage gegen die SS und ihre Verbrechen, im Mittelpunkt steht der komplizierte, vielfältige Widerstand der politischen Häftlinge. Auch sie werden jedoch geschildert, wie sie waren: keine Helden, in vielen Fällen großartig, aber auch Menschen mit ihren Schwächen unter den ganz besonderen Bedingungen der KZ-Höllen.
Nach dem Krieg änderte Leo seinen Namen in Lettow, um alles Erlebte aus seinem Gedächtnis zu streichen. Er sprach nie wieder über die Zeit.
Verpflichtung eingegangen
Im April 1954 wurde Lettow, nun schon Chefarzt der Orthopädischen Klinik in Neuruppin, für die Zusammenarbeit mit der DDR-Staatssicherheit gewonnen. Nach diesem fürchterlichen Krieg, nach den grauenhaften Erlebnissen der Nazigegner, hatte sich die DDR das Ziel gesetzt, ein neues friedliches Deutschland aufzubauen, von dem nie wieder ein Krieg ausgehen dürfe. In der Überzeugung, Feinde dieses Strebens abwehren helfen zu müssen, ging Fritz Lettow, nicht ohne zu zögern, die Verpflichtung ein.
Es gab Treffberichte, in denen er Stimmungen in der Kollegenschaft, in der Orthopädischen Gesellschaft und im Ort wiedergab. Namen nannte er nicht. Zunehmend kritisierte Fritz Lettow mangelnde Versorgung, die Fehlentscheidung für Rinderoffenställe durch die 33. Plenarsitzung des ZK der SED im Oktober 1957, klagte über fehlende wissenschaftliche Information aus dem Westen und anderes mehr.
Gleichzeitig wurden Berichte über ihn abgefasst. Und es macht betroffen, dass ihm, je kritischer er sich äußerte, seine Tätigkeit gegen die Nazis mehr und mehr abgesprochen wurde. Er sei zwar Mitglied der SED, stünde jedoch nicht immer auf dem Boden des Arbeiter- und Bauernstaates, hieß es. Er stamme aus einer jüdischen Familie und habe vor 1945 längere Zeit in Frankreich in einem KZ als Jude büßen müssen. In dem deutschen Kopf war also durchaus noch präsent: Juden haben zu büßen. 1969 wurde die Zusammenarbeit beendet, denn Lettow habe eine pessimistische Einstellung zur DDR.
Unerwünschtes Zeugnis
Viele Jahre, verstärkt im Rentenalter, bot er seine Erinnerungen mehreren Verlagen an. Bei einigen traf er auf Interesse, sie versprachen zu prüfen, machten Änderungsvorschläge. Und Lettow reiste zu Gesprächen, schrieb neue Vorworte und Nachworte, änderte vieles. Letztlich jedoch lehnten alle Verlage die Veröffentlichung seines Manuskripts ab. Der Vorsitzende des Buchenwald-Komitees Walter Bartel war um eine Stellungnahme gebeten worden und kam 1979 in einem Gutachten zu dem Schluss, dass die subjektiven Erinnerungen Lettows mit der historischen Wahrheit nicht übereinstimmen.
Den Höhepunkt der böswilligen Verleumdung lieferte daraufhin Oberst Gerhard Kehl, Leiter der AG Öffentliche Verbindungen in einem Begleitschreiben zu dem Gutachten. Er behauptete, dass Lettows Manuskript eine Schmiererei sei, die unter keinen Umständen veröffentlicht werden dürfe. Außerdem wisse er, dass Dr. Lettow sich an allen Schweinereien der SS-Ärzte beteiligt und mit dem SS-Arzt Dr. Eisele im KZ Natzweiler-Struthof gemeinsame Sache gemacht habe.
Dr. Lettow starb am 4. Oktober 1989, hat also seine Stasi-Akte nicht mehr ansehen müssen. Sein Cousin Gerhard Leo, der lange in der französischen Résistance gearbeitet hatte, gab 1997 das Buch »Arzt in den Höllen« mit einem Nachwort und 2005 in Frank-reich in seiner Übersetzung als »Un médicin en enfer« heraus.
1 »Ein weiterer SS-Mann in Buchenwald, der für viele Tote verantwortlich war und allgemein als ›Buchenwald-Mörder‹ bekannt war, ist: SS-Hauptsturmführer Eisele (…). Er wurde von allen Gefangenen gefürchtet. Er (…) wählte kräftige, gesunde Männer aus, brachte sie ins Krankenhaus und verabreichte ihnen Injektionen, die sie töteten.«
Cornelia Nenz ist Dramaturgin, Intendantin sowie Museumsdirektorin. Sie ist die Tochter von Fritz Lettow.