Klasse ist überall
8. September 2024
Vom Klassenunbewusstsein zur Gemeinwohlorientierung
Die Schwarze Journalistin Ciani-Sophia Hoeder beschäftigt sich in diesem Buch damit, wie Klassenunterschiede alle Lebensentscheidungen, die wir treffen, beeinflussen, wobei gleichzeitig wenig über Klasse gesprochen wird. Die aktuellen Debatten rund um Klassismus als Diskriminierung aufgrund des sozialen Status ergänzt Hoeder durch einen strukturellen Blick auf den Kapitalismus und das dahinter stehende Menschenbild.
Dabei kombiniert die Autorin politische Analyse und Interviewauswertungen mit ihrer persönlichen »Klassenreise« vom Aufwachsen mit einer alleinerziehenden Mutter hin zur aktuellen, akademisierten Mitte. In verständlicher Sprache und mit prägnanten Sätzen macht sie deutlich, wie unterschiedlich das Verhalten von Menschen bewertet wird, je nachdem, welcher Klasse sie zugehörig sind. »Klasse ist überall«, so Ciani-Sophia Hoeder und reitet dabei in den unterschiedlichen Kapiteln durch Themen wie Bildung, Dating, Essen, Sorgearbeit und Umgang mit Geld. Sie unterteilt dabei in fünf Klassen: die prekäre Klasse, eine aktuelle Mitte (studierte Personen mit neu entstandenen Berufsfeldern oder Wissenschaftler_innen), eine klassische Mittelklasse (mit traditionellen Werten und Berufen), eine wohlständige Klasse und die Überwohlständigen (aka Superreiche). Immer dabei im Blick: das Wechselverhältnis und das Zusammenspiel von Klasse, Geschlecht und Race.
Erfrischend webt das Buch immer wieder eine knallharte Kapitalismuskritik ein und erklärt Konzepte wie den »Economic Man« oder die Theorien von Jean-Jacques Rousseau und Georg Wilhelm Friedrich Hegel, ohne dabei in der Theoriewüste zu versinken. Interessant ist beispielsweise der Class Marriage Gap (übersetzt so etwas wie Klassenheiratslücke) – eine fehlende Klassensensibilität und eine Orientierung an Menschen, die einem selbst ähnlich sind, sodass soziale Mobilität durch Liebesbeziehungen abnimmt. Hier braucht es mehr soziale Räume, in denen Menschen unterschiedlicher Klassen miteinander zu tun haben, argumentiert die Autorin. Besonders zeigt sich dies in der gesellschaftlichen Grenzziehung zwischen der aktuellen Mitte und einer klassischen Mitte aufgrund ihres Konsumverhaltens: Fahrrad oder SUV, vegan oder Fleisch, Café au Lait oder Kaffee. Die Verknüpfung von Nahrungsmitteln mit politischen Narrativen verhindert hier den Blick auf das, was wichtig ist: eine Debatte über Ernährungsgerechtigkeit und Ressourcenverteilung.
Unter dem Credo des Individualismus wird Menschen suggeriert, dass sie es schaffen können, wenn sie nur an sich selbst arbeiten. Statt ein von vorneherein unfaires System zu kritisieren, suchen Menschen die Antwort in Hyperindividualismus und Leistungsorientierung. Dabei geht jedoch die Orientierung an der Gemeinschaft verloren – ich arbeite nicht an mir für uns alle, sondern für mich. Diese antisoziale Einstellung verhindert zu erkennen, wo auch eigene Verantwortung liegt, wie sich beispielsweise bei demokratischer Mitbestimmung zeigt.
Ciani-Sophia Hoeder appelliert in ihrem Buch an die aktuelle Mittelschicht, die sich aufgrund ihres Konsums politisch wähnt, aber nicht an den gesellschaftlichen Verhältnissen rüttelt. Sie soll sich ihres Klassenhintergrunds bewusst werden und das eigene »Klassenunbewusstsein« erkennen. Es braucht dabei nicht allein gerechten Konsum, sondern eine gesellschaftliche Veränderung. Ob durch bedingungsloses Grundeinkommen, ein Grunderbe für alle oder höhere Besteuerung für Überwohlständige – die Instrumente sind da, so Hoeder. Jetzt gilt es, anzupacken.