Flucht aus dem Totenreich
4. Januar 2025
Ein Buch des Schriftstellers und Holocaustüberlebenden Gerhard L. Durlacher
Als die Rote Armee am 27. Januar 1945 das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreite, befand sich Gerhard L. Durlacher an der Schwelle des Todes. Die Zwangsarbeit im benachbarten Steinbruch hatte ihn extrem entkräftet. Dann ein Sturz, und er fiel in eine tage- sowie nächtelange Bewusstlosigkeit. Das Krankenstationspersonal und junge Russen holten ihn ins Leben zurück. Durlacher berichtet im Manuskript rückerinnernd damalige Gedanken: »Ich fliehe aus dem Totenreich« (S. 201).
Nur wenige Monate zuvor hatte er an seinem 16. Geburtstag ein herzzerreißendes Wechselbad der Gefühle erlebt: Vater und Mutter wurden in die Gaskammern gezwungen. Er sah noch aus der Ferne für einige Momente seine Mutter in ihrer graublauen Strickjacke (S. 191) – auf ihrem letzten Weg. Danach Angst, Resignation, Verzweiflung. Am selben Tag holte ihn der Blockführer aus dem mentalen Nichts. Es war eine Befehlsschrei in die Baracke hinein: »Alle Jungs raus!«. Durlacher erinnert sich daran: »In diesem Augenblick weiß ich, dass ich leben werde« (S. 192). Denn mit Dutzenden von Altersgenossen wird er auf dem Appellplatz für die Arbeit im Steinbruch gemustert. Eine Überlebenschance für ihn.
Seine Tochter Jessika schreibt posthum im Nachwort des Buchs über seine Erinnerungen an die NS-Schreckensherrschaft: »… hatte mein Vater um sich herum einen Schutzwall, einen Bunker aus Stahlbeton aufgebaut, um den Alptraum, der für ihn noch allgegenwärtig war, nicht an sich heranzulassen« (S. 294). Durlacher beschrieb es in seinem Erinnerungsmanuskript ähnlich dramatisch: »Wir wollten tagsüber das vergessen, was uns in den Nächten quält« (S. 205) – ein Leben mit Auschwitz.
Durlacher wurde als Kind jüdischer Eltern am 10. Juli 1928 in Baden-Baden geboren. 1937 Emigration seiner Familie in die Niederlande; 1942 Verhaftung und Internierung im Durchgangslager Westerbork und im gleichen Jahr Deportation in das KZ Theresienstadt, 1944 über das KZ Theresienstadt in das KZ Auschwitz verschleppt – Überlebender des Holocaust. Im Januar 1933 – als Fünfjähriger – wurde er mit der nationalsozialistischen deutschen – Judenverachtung konfrontiert. Im Treppenhaus wurde gerufen »Juda verrecke« (S. 53). Dann in der Schule – erste Klasse – »Du kleiner Stinkjude« (S. 62). Weitere Ausgrenzungs-, Boykott- und Gewalterfahrungen führten zur Emigration mit dem Auto – auf dem Weg nach Westen von Hotel zu Hotel Schilder »Juden unerwünscht« (S. 76).
Sie beziehen eine Wohnung in der Nähe von Blijdorp. Rückerinnernd schreibt er ins Manuskript: »Drei friedliche Jahre verbringen wir am Schieweg« (S. 92). Gerhard wird ein guter Schüler. Häufig kommen niederländische Gäste zum Musizieren, gemeinsamen Essen und Diskursen.
Am 10. Mai 1940 ist die relativ sorglose Zeit vorbei: Nazideutschland überfällt die Niederlande. Durlacher: »Vier Tage später stürzt die Welt ein« (S. 94). Auch ihre Wohnung fällt den Bomben zum Opfer. Ein Notumzug nach Appeldorn folgt. Viele Razzien halten die aus dem NS-Reich Geflüchteten in steter Unruhe. Im Alter von 14 Jahren wird er am 3. Oktober 1942 mit seinen Eltern verhaftet und in das Internierungslager Westerbork in den Niederlanden verschleppt. Das Lagerleben beginnt. Durlacher: »Mit 14 Jahren kann man sich nicht vorstellen, was Menschen einander antun können« (S. 98). Die SS-Leitung hatte jüdische Mithäftlinge in die Lagerverwaltung integriert. Durlacher: »Eine teuflische Strategie: divide et impera« (S. 98). Das Lagerleben: »Angst, Resignation, Trauer und ein wenig Solidarität« (S. 99). Alle haben Angst vor der Deportation nach Osten – nach Theresienstadt, nach Auschwitz. Gerhard rekapituliert seinen damaligen Gemütszustand: »In mir hat eine Veränderung stattgefunden: Die meisten Befehle verstehe ich, führe sie jedoch nur noch mechanisch aus. Durch den Hunger geschwächt und in ständiger Angst vor (…) einer weiteren Deportation (…) habe ich mich zu einem Roboter gemacht« (S. 102). Er nennt die SS-Barbaren »Würdenträger der Gewalt« (S. 171). Die Ängste vor den Deportationen nach Theresienstadt und Auschwitz werden schließlich zu traumatischen Realerfahrungen: »Mitte Mai 1944 hatten wir in verschlossenen Viehwaggons« mit dem »Ziel nach Auschwitz-Birkenau drei Tage und zwei Nächte« (S. 156) verbracht.
Das Lagerleben – gedanklich rekonstruiert: »In der Hölle gibt es keine Sprache, die auszudrücken vermag, was ich sehe, höre und rieche oder schmecke. Bedrohung und Angst haben meine Gefühle mit Angst umgeben. Ich rieche den Verwesungsgestank und den fetten Rauch, aber ich begreife nichts« (S. 188).
Nach der Befreiung des Lagers und nach seiner Gesundung gab es für ihn nur ein Ziel: »Ich will (…) nach Hause, in Richtung Niederlande« (S. 207). Es wurde ein langer Weg mit vielen Zwischenstationen für ihn als Displaced Person (DP). In den 80er Jahren zog es ihn über die Shoah recherchierend nach Israel. In der Nähe von Jerusalem traf er zwei Auschwitz-Überlebende, mit denen er gemeinsame schreckliche Erfahrungen austauschte. Fazit: »Wir müssen weitermachen, festhalten, weitergeben« (S. 276). Allein die strukturierte Wiedergabe des Gesprächs der drei – Gerhard, Dov und Yehuda – macht das Buch zu einem Oral-history-Lesegeschenk. Durlacher starb am 2. Juli 1996.