Kriminelle konstruiert

geschrieben von Gerald Netzl

12. März 2025

Buch zur Inhaftierung von »Berufsverbrechern« im KZ Mauthausen

Andreas Kranebitter, wissenschaftlicher Leiter des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstands (DÖW), beschäftigt sich seit mehr als 20 Jahren mit jenen Mauthausen-Häftlingen, die den grünen Winkel tragen mussten und – von den Nazis – als »Berufsverbrecher« stigmatisiert und kategorisiert wurden. »Grüne« waren die ersten Internierten im KZ Mauthausen – kamen sie doch zum Lageraufbau aus dem KZ Dachau – und waren die letzten, derer man sich in den Täterländern Deutschland und Österreich erinnert. Mit unterschiedlichen geschichts- und sozialwissenschaftlichen Methoden und Konzepten geht Kranebitter den Biografien von 885 Österreichern, die als »Berufsverbrecher« in Mauthausen interniert waren, nach. Da drei Viertel aller Mauthausen-Häftlinge mit dem grünen Winkel Reichsdeutsche waren, ist dieses Buch auch für deutsche LeserInnen interessant.

Millionenfache Wiederholungen verfestigen

Victor Klemperer stellte in seiner Analyse »Lingua Tertii Imperii: Sprache des Dritten Reiches« fest, dass Einzelworte, Redewendungen, Satzformen (»asoziale«, »Berufsverbrecher« …) durch ihre millionenfachen Wiederholungen mechanisch und unbewusst übernommen wurden. Zum Teil sind diese noch immer in Verwendung. Die Männer mit dem grünen Winkel waren nicht von regulären Gerichten zu KZ-Haft verurteilt worden, sondern wurden ausschließlich wegen ihrer Vorstrafen oder nach verbüßter Strafhaft (!) von der Kriminalpolizei, ohne ein neuerliches Delikt begangen zu haben, noch einmal in »Vorbeugungshaft« genommen, als »Berufsverbrecher« etikettiert und in KZ deportiert, oder sie wurden 1942 als sogenannte Sicherungsverwahrte aus Justizanstalten der SS übergeben.

Andreas Kranebitter: Die Konstruktion von Kriminellen – Die Inhaftierung von »Berufsverbrechern« im KZ Mauthausen. new academic press, Wien 2024, 448 Seiten, 29,90 Euro

Andreas Kranebitter: Die Konstruktion von Kriminellen – Die Inhaftierung von »Berufsverbrechern« im KZ Mauthausen. new academic press, Wien 2024, 448 Seiten, 29,90 Euro

Reichsweit geregelt wurden die »polizeiliche Vorbeugungshaft« und die »polizeiliche planmäßige Überwachung« mit dem Grunderlass zur »Vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« vom 14. Dezember 1937. In »Vorbeugungshaft« genommen wurden »Berufsverbrecher«, die »wegen aus Gewinnsucht begangener Straftaten« mindestens dreimal zu einer Haftstrafe von sechs Monaten verurteilt worden waren. Von dem Erlass betroffen waren zudem »Gewohnheitsverbrecher« und »Asoziale«, die durch ihr Verhalten angeblich die Allgemeinheit gefährdeten.

In zehn Kapiteln bearbeitet der Autor Themen wie »Abweichendes Verhalten in abweichenden Zeiten«, »Renitenz als Resistenz«, »Flucht ins Zuchthaus« oder »Die zweite Stigmatisierung« in großer Ausführlichkeit.

Von den etwa 190.000 Mauthausen-Häftlingen (Hauptlager und Außenlager) waren 18.410 Bürger des Deutschen Reichs. Von ihnen mussten 4.234 den grünen Winkel tragen, 1.572 von ihnen wurden getötet (insgesamt wurden 8.753 Deutsche getötet). Mauthausen (und noch viel mehr das Außenlager Gusen) war bekanntlich das einzige KZ der Lagerstufe III, das bedeutete »Vernichtung durch Arbeit«.

In der Anfangszeit waren im KZ Mauthausen nur deutsche und österreichische Männer inhaftiert. Nach dem Überfall auf Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurden aus den eroberten Gebieten Menschen in die Konzentrationslager im Reich transportiert. Die Zusammensetzung der Häftlingsgesellschaft wurde dadurch zunehmend international.

Die weitaus meisten Verurteilungen der Männer mit dem grünen Winkel gingen auf kleine Eigentumsdelikte zurück, nicht auf Gewalt- oder Sittlichkeitsdelikte, sogenannte schwere Jungs waren die Ausnahme. Oft mussten Männer mit dem grünen Winkel eine Funktion als »Kapo« übernehmen. Die meisten »Kapos« wurden durch Position und Situation korrumpiert, waren in einer unfreiwilligen Nähe zur SS. Das sollte noch lange in der Nachkriegszeit nachwirken, für eine schlechte Nachrede sorgen und erst späte Anerkennung als Opfergruppe bewirken. Andreas Kranebitter ist zuzustimmen, wenn er aus der Erklärung des Bundestages festhält: Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequält oder ermordet. Alle Konzentrationslagerhäftlinge waren am Ende Opfer des NS-Unrechtssystems – auch Menschen mit dem »schwarzen« und »grünen« Winkel. Mit einem weiteren Mythos räumt das Buch ebenso auf: Zu einem Rückgang der Kriminalität führten die Maßnahmen der Nazis nicht.

Demokratie leben

Kranebitter resümiert: »Lernen kann man, dass staatliche Institutionen kein Recht zur ewigen Speicherung von Daten haben sollten, dass Justiz- und Polizeibehörden nicht in Strafregistern Wissen über Jahrzehnte zurückliegende Verurteilungen aufbewahren dürfen, die plötzlich wieder kriminalpolitisch für relevant erklärt werden können. Dieses Wissen sollte gelöscht, zumindest dem Alltagshandeln von Justiz und Polizei entzogen werden. Demokratien leben von Rechtsstaatlichkeit – auch für die Schwächsten wie die Renitentesten.«

Die Gesamtzahl aller in Konzentrationslager eingewiesenen Personen, die im Lager mit einem »grünen Winkel« gekennzeichnet waren, ist nicht ausreichend erforscht. Kranebitter schreibt gezielt über das KZ Mauthausen und fokussiert auf die Österreicher mit dem »grünen Winkel«.