Erinnern als Praxis

9. November 2025

Wie Kunst, Migration und plurale Perspektiven das Gedenken verändern

Es ist keine spezifische Fragestellung der VVN-BdA, wie es gelingt, die historische Erinnerung an kommende Generationen weiterzugeben und mit Nachgeborenen zu organisieren. Dabei geht es nur bedingt um die historischen Inhalte, sondern auch um Perspektiven, Diversität und Medien.

Gesellschaftliche Wiederaneignung

Ein interessantes Projekt präsentierte in diesem Jahr der Wiener Mandelbaum-Verlag mit seinen verschiedenen Aufrufen für plurales Erinnern. Ausgehend von dem historischen Ort eines Wiener Bunkers, um dessen Nachnutzung bzw. gesellschaftliche Wiederaneignung es seit geraumer Zeit künstlerische und soziale Initiativen gibt, finden sich in dem Band »Erinnern in Zukunft« Überlegungen und Best-Practice-Beispiele im Umfeld einer umfassenden gesellschaftlichen Erinnerung. Beteiligt waren Mitwirkende aus den Bereichen Kunst, Aktivismus, Wissenschaft und verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten. Sie machten »plurale Perspektiven auf Erinnerung durch künstlerische Produktionen, Forschung, Diskursformate und partizipative Projekte sichtbar« (S. 194).

Die Initiatoren des Projekts verstehen »Erinnern« nicht allein als historische Dimension, sondern vor allem als Teil der gesellschaftlichen Integration und Inklusion von Menschen und ihren Erfahrungen. Gerade in einer Stadt wie Wien, die schon im 19. Jahrhundert von einem hohen Grad an Migration und damit von unterschiedlicher kultureller Erfahrung geprägt war, ist diese Dimension von Bedeutung, wie damit eine gemeinsame Aneignung von Erfahrungen gelingen kann. In knapp vierzig Einzelbeiträgen und zwei Bilderstrecken wird auf den historischen Ort Bezug genommen, aber eigentlich stehen die Menschen und ihre Erfahrungen im Fokus der Überlegung.

Alltäglichkeit von Gedenkzeichen

Eine der Herausgeberinnen, Anne Wiederhold-Daryanavard, leitet das Buch ein mit dem bezeichnenden Beitrag »Totgesagte leben länger und der Bunker ist auch immer noch da«. Sie schildert darin die Herausforderung, historische Erfahrungen und innerfamiliäre Prägungen, die durch Migration und andere Wirklichkeiten gekennzeichnet sind, an nachgeborene Generationen in ihrer jeweiligen Dimension weitergeben zu können. Michael Podgorac verweist auf die Abstumpfung der Erinnerung durch die Alltäglichkeit von Gedenkzeichen (»Do[n’t] believe in monuments«). Als externer Partner war auch Max Czollek beteiligt, der seine These vom deutschen »Versöhnungstheater« im Umgang mit Erinnerung an die NS-Zeit in diesem Rahmen vorstellte. Aus dem Bereich der Wissenschaft kommt Marina Grzinic, die unter dem Titel »Eine Zukunft ohne Erinnerung? Nein!« über das Projekt »Genealogy of Amnesia«, gefördert durch den Österreichischen Wissenschaftsfonds, berichtet. Sie plädiert dafür, »aus dem Bunker des Schweigens herauszutreten«.

Erinnerung betrifft vielfältige Perspektiven. Insbesondere die Perspektiven auf Migration und den Verlust der Heimat und Tradition im Zuge der Arbeitsmigration werden an mehreren Beiträgen veranschaulicht. Entscheidend ist, dass die Mehrheitsgesellschaft diese Verlusterfahrung nicht wahrnimmt, den Versuch der Selbstvergewisserung der Betroffenen in ihrer eigenen Erinnerung dagegen als Parallelgesellschaft denunziert. Dass auf der anderen Seite die Arbeitsmigration existenziell zum Funktionieren der Systeme beiträgt (wie am Beispiel der asiatischen Pflegemigration gezeigt), wird als »gegeben« hingenommen.

Rassistisches Weltbild weitergegeben

Der aus der Sicht des Rezensenten spannendste Text stammt von Simon Inou, der sich mit der »Erinnerungspolitik in der Schulbildung, am Beispiel von Afrika und Europa« beschäftigte. Es ist geradezu dramatisch, wie durch die postkoloniale Prägung von Bildung und Erziehung in der Tradition des französischen Schulsystems das rassistische Weltbild auch zukünftig an nachgeborene Generationen weitergegeben wird, wie die »Höherwertigkeit« der Europäer und die »Minderwertigkeit« der afrikanischen Kultur und Tradition – im Widerspruch zu allem, was heute die Wissenschaft zu akzeptieren bereit ist – behauptet wird. »Erinnerung« erweist sich in diesem Rahmen als rassistische Prägung von Hierarchien, deren Überwindung bis heute auf große Widerstände stößt – selbst bei den regionalen Eliten.

Hervorzuheben ist auch das Design. Es wirkt zuerst ein wenig »sperrig«, weil es vielen Lesegewohnheiten zuwiderläuft. Es entstand als »kollektiver Prozess«, an dem Wissenschaftler, Betroffene, gesellschaftliche Aktivisten und Künstler der verschiedenen Richtungen beteiligt waren. So werden die einzelnen Texte immer wieder verbunden mit Linolschnitten, Fotos und anderen künstlerischen Beiträgen.

Bemerkenswert ist, dass diese Veröffentlichung, die durchaus kritisch mit der österreichischen Wirklichkeit umgeht, mit finanzieller Unterstützung der Stadt Wien und weiterer staatlicher Stellen realisiert werden konnte.