»Konfusion« in der Debatte
7. Januar 2023
Historiker streiten – nicht alle. Sammelband versucht Argumente nachzuvollziehen
»Konflikte und polemische Debatten überall: das Humboldt-Forum und koloniale Beutekunst; die Umbenennung der M-Straße; einhundertfünfzig Jahre Deutsches Kaiserreich; Achille Mbembe, Holocaust und Kolonialismus, die Deutschen mit ›Nazihintergrund‹ und nicht zu vergessen die Machenschaften der Hohenzollern. So unterschiedlich die Debatten im Einzelnen sind, immer wird dabei die Deutung der NS-Zeit oder des Kolonialismus mitverhandelt; häufiger sogar beides.« So beschreibt der Historiker Sebastian Conrad im Buch »Historiker streiten« den Hintergrund der Debatte um die Einzigartigkeit des Holocaust; hier sind vorwiegend Beiträge einer Tagung im Einstein-Forum in Potsdam vom Oktober 2021 veröffentlicht.
Die unter dem Begriff »Zweiter Historikerstreit« (und auch in der antifa-November-/Dezemberausgabe verschiedentlich sichtbar) geführte Debatte, dreht sich im wesentlichen um den Aufsatz »Der Katechismus der Deutschen« von Dirk Moses. Im Sammelband führt Moses nochmals seine provokanten Thesen aus, mit Erläuterungen der Vorgeschichte und der späteren Diskussion. Michael Wildt konstatiert »Konfusion« in der Debatte, aber das Buch ermöglicht es den Lesenden mit einigem Aufwand, die Argumente beider Seiten des Neuen Historikerstreites nachzuvollziehen.
Hier kann nicht auf die vielen Autor:innen und ihre verschiedenen Zugänge zur Diskussion um die Bewertungen des Verhältnisses von Holocaust und Kolonialgewalt eingegangen werden, deshalb nur kurz: Mario Keßler widmet sich der Forschung zum Kolonialismus in der DDR, und kann zeigen, dass die Ergebnisse bis heute Gültigkeit haben. Auch Susan Neiman und Ingo Schulze bekräftigen diese Wahrnehmung. Die Herausgeberin Susan Neiman bezieht im Vorwort einen grundsätzlichen Standpunkt in der Diskussion, gegen die Singularitätsthese: »Für Universalisten, ob jüdisch, schwarz oder sonst was, ist eine solche Opferkonkurrenz mehr als unsinnig: Es schwächt die Solidarität, die wir brauchen, um gemeinsam gegen alle Formen des Rassismus zu kämpfen.«
Die Alten in der VVN-BdA waren schon immer Universalist:innen. Kurt Goldstein hat 2007 in der Petition »Shalom 5767« gegen den Libanon-Krieg legitime Kritik an der israelischen Politik formuliert: »Israel ist aber auch ein Land, das nicht mehr Rechte als jedes andere Land hat. Ein Land, das in besonderem Maße an die Einhaltung der Menschenrechte gebunden ist, weil seine Existenz an eben diese Menschenrechte geknüpft ist.« Peter Gingold hat sich für Mumia Abu-Jamal eingesetzt, den in einem rassistischen Prozess zum Tode verurteilten linken Journalisten, der seit 1981 in den USA inhaftiert ist. Dank seines Wortes wurde Mumia 2002 zum Ehrenmitglied in unserer Vereinigung. Der offene Brief an die Minister Fischer und Scharping 1999 gegen die Bombardierung Serbiens steht ebenfalls in dieser universalistischen Tradition der VVN-BdA. Und auch Esther Bejarano prangerte die Probleme der Gegenwart im »Appell an die Jugend« von 1997 an: »1945 war es für uns unvorstellbar, dass Ihr, die Nachgeborenen, erneut konfrontiert sein würdet mit Nazismus, Rassismus, einem wieder auflebenden Nationalismus und Militarismus. Und nun noch die ungeheure Massenarbeitslosigkeit, die immer größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich, die katastrophale Zerstörung der Umwelt. Immer mehr junge Menschen leben in Zukunftsängsten. Lasst Euch nicht wegnehmen, was Ihr noch an demokratischen und sozialen Errungenschaften vorfindet. Lasst sie nicht weiter abbauen! Von keinem Regierenden sind sie Euch geschenkt worden: Es sind vor allem die Errungenschaften des antifaschistischen Widerstandes, der Niederringung des Nazifaschismus. Verteidigt, was Ihr noch habt, verteidigt es mit Klauen und Zähnen!«
Im vorliegenden Buch fehlt der Beitrag »A German History of Namibia or a Namibian History of Germany?« der simbabwisch-amerikanischen Soziologin Zoé Samudzi, den sie auf der Tagung im Einstein-Forum gehalten hat. Das Thema ihres Vortrages waren die unzureichenden Entschädigungen der deutschen Regierung für den Genozid an den Herero und Nama von 1905/1906 in der Kolonie »Deutsch-Südwest«. Und sie beschrieb, wie die Verbrechen der deutschen Besatzungsmacht bis heute als Traumata über die Generationen weiter wirken. Sie wollte den Betroffenen, den Indigenen, auf dieser Veranstaltung in Deutschland eine Stimme geben. Erst über die sozialen Medien hat sie erfahren, dass ihr Beitrag nicht im Buch enthalten ist. Die Herausgeber:innen Susan Neiman und Michael Wildt haben – ebenfalls über Twitter – den Ausschluss aus dem Sammelband im Nachhinein damit gerechtfertigt, dass der Vortrag eben nicht zum Motto der Konferenz gepasst hätte. Wenn dies wirklich der Maßstab gewesen wäre für die Aufnahme in das Buch, dann hätte eine ganze Reihe von Artikeln, die jetzt enthalten sind, noch viel eher draußen bleiben müssen!
Der verletzende Ausschluss einer bekannten wissenschaftlichen Stimme aus dem Süden durch die wissenschaftliche Community des ehemaligen kolonialen Aggressors im Jahr 2022 – vielleicht ist dies der alarmierendste und bedrückendste Aspekt des Buches.