Verblüffende Kontinuität
27. April 2024
Ein Buch über die BRD-Bundespräsidenten und deren Nazivergangenheiten
Am 8. Mai 1985 – 40 Jahre nach dem Sieg der Alliierten über die Nazidiktatur – sagte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker (CDU, Amtszeit 1984–1994) vor dem Plenum des Bundestags: »Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.« Im Zusammenhang mit dem 8. Mai von »Befreiung« zu sprechen war kein Tabubruch mehr – auch der Vorvorgänger Weizsäckers, Walter Scheel (FDP), hatte dieses Wort bereits zehn Jahre zuvor zum 30. Jahrestag eingebracht. Dennoch blieb Weizsäckers Aussage nicht folgenlos: Das Bundespräsidialamt wurde gleichsam überschüttet mit Reaktionen der Bewunderung, des Einverständnisses, des heftigen Widerspruchs und des »Hasses der Rechten«.
Erste sechs Präsidenten im Fokus
Norbert Frei, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Jena, thematisiert in seinem Buch Reden und andere Quellen der ersten sechs Bundespräsidenten: Theodor Heuss (1949–1959), Heinrich Lübke (1959–1969), Gustav Heinemann (1969–1974), Walter Scheel (1974–1979), Karl Carstens (1979–1984) und Richard von Weizsäcker. Frei entdeckt eine verblüffende Kontinuität der sechs Amtsträger – sowohl hinsichtlich ihrer Aussagen als auch ihrer Biografien: Der erste Bundespräsident, Theodor Heuss, erteilte in seiner Antrittsrede dem Begriff »Kollektivschuld« eine Absage; er prägte fortan mit »Kollektivscham« einen Begriff für die Verantwortung der Deutschen für die NS-Diktatur. Und er konstruierte eine Verführungslegende: Heuss bezeichnete die Deutschen als Hitlers erste und »eigentliche Opfer« (S. 22). Fortan galt allgemein das Schlüsselbild von einer kleinen Naziclique, die unter Hitler das Land verführte.
Alle fünf folgenden Bundespräsidenten schlossen sich dieser wirklichkeitswidrigen Behauptung an. Heuss »dämonisierte« die NS-Führer; aber er gestand auch ein: »Wir haben von diesen Dingen gewusst« und forderte: »Wir Deutschen dürfen nie vergessen« (S. 54). Lübke tat sich mit dem Narrativ hervor, dass der Nazistaat von einer Minderheit, »und zwar von einer kleinen Minderheit, geführt« (S. 130) worden sei. Heinemann profilierte sich modernisierend im Kontext der Neuen Ostpolitik des Brandt-Kabinetts – zum Beispiel mit seinem Engagement für die Friedens- und Konfliktforschung (S. 191). Scheel bemühte sich in aller Vorsicht um eine erinnerungspolitische Läuterung, indem er den 8. Mai 1945 als »widersprüchlichen Tag« (S. 215) bezeichnete. Dagegen verstieg sich sein Nachfolger Carstens in ein besonders konservatives Narrativ »zum ehrenden Gedenken« (S. 240) an die gefallenen Wehrmachtssoldaten.
Alle mit NS-Hintergrundbiografien
Der Autor Norbert Frei dokumentiert differenziert, dass diese sechs Bundespräsidenten der BRD – mehr oder weniger aktiv – NS-Hintergrundbiografien hatten: Heuss hatte als Reichstagsabgeordneter am 23. März 1933 dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt, und er hatte bereits 1931 ein Buch mit dem Titel »Hitlers Weg« veröffentlicht. Frei notiert, dass das Buch »eine gewisse Bewunderung, ja Sympathie für die plebiszitär unterlegte Durchsetzungsfähigkeit« der Nazibewegung erkennen ließ (S. 18). Lübke befand sich wohl in der Nähe zu den »Funktionseliten, die das ›Dritte Reich‹ und die deutsche Kriegsführung am Laufen gehalten hatten« (S. 169). Er war verantwortlicher Bauleiter einer Fabrikhalle zum Bau von V2-Raketen. Zudem ließ er Baracken für Zwangsarbeiter zur Montage dieser Raketen errichten. Heinemann stand wiederum Lübke in nichts nach: Er trug Verantwortung als stellvertretendes Vorstandsmitglied der Rheinstahl AG (Mehrheitseigner: IG Farben) während des deutschen Faschismus (S. 181). Auf dem Gelände des Konzerns waren tausende Zwangsarbeiter untergebracht. Verbrieft ist auch, dass Scheel »einstiger Rottenführer in der Hitler-Jugend und NSDAP-Parteigenosse (…) war« (S. 212). Scheel (S. 275), Carstens (S. 224) und von Weizsäcker (S. 275) hatten sich als Offiziere der verbrecherischen Wehrmacht zur Verfügung gestellt.
Tabuisierter Umgang
Die ersten sechs Bundespräsidenten waren durch eigene NS-Biografien vorbelastet. Dass sie sich nicht dem Terrorsystem der Nazis verweigerten, ist eine historische Wahrheit. Dass sie während ihrer Präsidentschaften mit keinem öffentlichen Wort die eigene frühere Nähe zum Nazistaat thematisierten, zeigt den tabuisierten Umgang mit der Vergangenheit, der als exemplarisch für die Gesellschaft gelten kann.
Das Buch von Norbert Frei ist ein wichtiger Beitrag zum NS-erinnerungskulturellen Lernen und zur erinnerungspolitischen Arbeit. Ganz im Sinne des Autors: »Was als unabschließbare Aufgabe bleibt, ist die glaubwürdige Verkörperung jener Bereitschaft, aus der Vergangenheit zu lernen, der sich die Gründung der Republik verdankt« (S. 318).