Systematisches Ausblenden

geschrieben von Thomas Hacker

4. Januar 2025

Buch zum »Bandera-Komplex: Der ukrainische Faschismus – Geschichte, Funktion, Netzwerke«

Das Vorwort der Herausgeberin Susann Witt-Stahl beginnt mit der Legende, der Ruf »Slawa Ukrajini!« (Ruhm der Ukraine) sei faschistischen Ursprungs. In Wahrheit stammt er aber aus dem 19. Jahrhundert. Der Slogan der ukrainischen Nationalisten lautet nämlich »Ruhm der Ukraine, den Helden Ruhm«. Richtig ist, dass dieser heute auch in den ukrainischen Streitkräften Anwendung findet. Nicht richtig ist, dass sich »ein deutscher Kanzler [Scholz 2022, T. H.] ein Ritual der faschistischen Organisation Ukrainischer Nationalisten, von Hitlerkollaborateuren, zu eigen« machte, indem er die ältere Parole aussprach. Es ist kaum anzunehmen, dass die Verfasserin dies nicht wusste.

Buch hält Fülle von Informationen bereit

Schade, denn der Sammelband birgt durchaus eine Fülle von Informationen über den Bandera-Kult und die vielfältigen faschistischen Ambitionen in der Ukraine, einschließlich der ausländischen Einflüsse, insbesondere Nazideutschlands und später der USA. Die Autoren Moss Robeson und Russ Bellant zeigen auf, wie umfangreich der Westen jede Art von Naziaktivitäten ausnutzte. Im Kampf gegen die Sowjetunion war immer jedes Mittel recht.

Doch das Ziel des Buches scheint ein anderes zu sein: Der russische Expansionskrieg soll als unvermeidbare Reaktion auf den westlichen Imperialismus (es gibt im Weltbild der Herausgeberin offensichtlich nur diesen einen) erscheinen. Jürgen Lloyd kommt nach einigen theoretischen Verrenkungen zu dem Schluss, in der Ukraine handle es sich um eine »faschistische Herrschaftsform« (laut Witt-Stahl sogar »hinter dem schönen Schein eines ›jüdischen Präsidenten‹«). Daraus folgert er dann, dass der Überfall ein antifaschistischer und »ein gerechter Krieg ist, ein Krieg, bei dem die Arbeiterklasse und die Mehrheit der Bevölkerung das Interesse haben, dass er siegreich verläuft«.

Alles hat hier seinen Platz und seine Funktion, wie bei jedem Verschwörungsnarrativ. Ist der scheinbar logische Zusammenhang erst einmal hergestellt, dann kann der Aggressor im Grunde tun, was er will: Raketenterror auf Städte weit hinter der Front, Zerstörung der Infrastruktur, ganz egal, wir haben ja den Schuldigen per se konstruiert. Auch auf den Einsatz einer Atomwaffe könnten solche Schwurbler gar nicht mehr anders reagieren als mit Schuldzuweisung an »den Westen«.

Susann Witt-Stahl (Hg.): Der Bandera-Komplex. Der ukrainische Faschismus – Geschichte, Funktion, Netzwerke. Verlag 8. Mai, Berlin 2024, 350 Seiten, 23,90 Euro

Susann Witt-Stahl (Hg.): Der Bandera-Komplex. Der ukrainische Faschismus – Geschichte, Funktion, Netzwerke. Verlag 8. Mai, Berlin 2024, 350 Seiten, 23,90 Euro

Arnold Schölzel trägt dann in seiner »Literaturstudie« altbekannte Träume westlicher Propagandisten zusammen und nutzt einen billigen Rhetoriktrick: Aus »Cui bono – Wem nützt es?« wird ein kausaler Zusammenhang konstruiert. Es ist übrigens der gleiche Schölzel, der sich am 18. Februar 2022 in der UZ über die westliche Behauptung lustig machte, die russische Armee würde bald einmarschieren: »Die deutsche Konzernpresse hetzt (…). Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter.« Vier Tage später marschierte die Karawane gen Kiew.

Damit keine Zweifel aufkommen, muss Witt-Stahl unbedingt noch das Verhalten von »Linken auf Abwegen« in der Ukraine in die rechte Ecke stellen. Einzelne Personen, die früher mit den kurdischen Volksverteidigungseinheiten für Rojava gekämpft haben sollen, haben sich wohl zu ukrainischen Nazis gewandelt. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt dieser Anekdoten: Was sollen sie uns sagen? Interessanter wäre es, die bewaffneten antifaschistischen Linken in der Ukraine nach ihren Argumenten zu fragen, mit denen sie gegen die russischen Invasoren kämpfen.

Nach der ukrainischen kommt Italiens Linke dran: Im »Mutterland des Faschismus lassen sich Vertreter des linken Milieus [sic!] von anarchistischen Steigbügelhaltern [sic!] des ukrainischen Nationalismus als Unterstützer rekrutieren.« Das sei »Trommeln für antirussischen Kreuzzug«.

Dann ist die KPÖ an der Reihe und zu guter Letzt die deutsche antifaschistische Szene: Die VVN-BdA hat sich irgendwann und irgendwo einmal zu wenig positioniert. Einige »Omas gegen rechts« stört, dass »der Angriffskrieg Putins häufig relativiert« wird. Für Witt-Stahl ist das alles ein Affront »gegen die antiimperialistische Linke«.

Kritik am heute hegemonialen Antifaschismus?

Der Sammelband basiert übrigens auf einer Konferenz der Tageszeitung junge Welt im September 2023. In der Einladung wurde »eine Kritik an einem heute hegemonialen Antifaschismus« angekündigt, der sich »gegenüber der fatalen Allianz des westlichen Imperialismus mit von ihm hochgerüsteten Faschisten bestenfalls als blind erweist«. (jungewelt.de/blogs/bandera_komplex)

Zumindest die VVN-BdA hat sich nicht als blind erwiesen, sondern sich schon früh in einer spannenden Online-Veranstaltungsreihe sowohl mit der ukrainischen als auch der russischen Rechtsentwicklung auseinandergesetzt. Witt-Stahl, Lloyd und Co. sind es, die blind sind, weil sie »die Maßlosigkeit der Ziele der herrschenden Klasse« und deren »rigorose Durchsetzung« (Lloyd) auf russischer Seite nicht sehen (wollen). Sie rechtfertigen die nationalistisch-imperiale Kriegspolitik Putins teils offen, teils durch das systematische Ausblenden offensichtlicher Tatsachen.