Vor der Befreiung

geschrieben von Ulrich Schneider

12. März 2025

Die Agonie des deutschen Faschismus und die NS-Verbrechen

Bei der Erinnerung an den 20. Juli 1944 wird oft betont, wenn dieses Attentat auf Hitler Erfolg gehabt hätte, wären viele tausend Menschen – nicht nur in Deutschland – gerettet worden. Zumeist wird dies mit den alliierten Kampfhandlungen (Bombardierungen von Magdeburg, Dresden sowie anderer Städte) verknüpft. Mindestens gleichermaßen bedeutend ist jedoch die Erinnerung an die Massenverbrechen, die vom faschistischen Regime in der Agonie der Herrschaft begangen wurden, indem SS, Wehrmacht und Gestapo noch viele tausend Menschen mit in den Abgrund rissen.

Es begann bereits Ende 1944 mit den Todesmärschen aus den verschiedenen Konzentrations- und Vernichtungslagern, die in den Frontbereich kamen. Ende 1944 erging aus Berlin der Befehl, dass kein arbeitsfähiger Häftling den alliierten Streitkräften in die Hände fallen dürfe. Trotz der erkennbaren militärischen Niederlage sollte die Arbeitskraft der Häftlinge bis zum bitteren Ende im Interesse der faschistischen Kriegsproduktion ausgeplündert werden.

Die überstürzte Räumung des Lagers Auschwitz im Januar 1945 erwies sich als Tortur für mehrere zehntausend Häftlinge. Über 50.000 Marschfähige wurden in Gruppen von 1.000 bis 2.500 Menschen zu Fuß auf eine Strecke von 50 bis 60 Kilometern nach Gleiwitz bzw. zu anderen Bahnhöfen getrieben. Da die Häftlinge entkräftet waren, dauerte der Marsch mehrere Tage. Von dort wurden sie bei Minustemperaturen in Güterwaggons in Lager im Deutschen Reich, zum Beispiel in das KZ Buchenwald, deportiert. Diese Transporte dauerten ebenfalls mehrere Tage, an denen die Häftlinge weder Verpflegung noch Wasser zum Trinken von den SS-Wachen bekamen. Bei der Ankunft in den neuen Lagern mussten aus den Transportzügen viele Leichen geborgen werden. Allein bei den Todesmärschen von Auschwitz ins Deutsche Reich starben nach unterschiedlichen Berechnungen zwischen 9.000 und 15.000 Häftlinge – ermordet durch die SS-Wachmannschaften oder gestorben auf Transport.

Ulrich Sander: Mörderisches Finale. NS-Kriegsverbrechen bei Kriegsende 1945. PapyRossa, 2. erweiterte Auflage, Köln 2020, 282 Seiten, 16,90 Euro

Ulrich Sander: Mörderisches Finale. NS-Kriegsverbrechen bei Kriegsende 1945. PapyRossa, 2. erweiterte Auflage, Köln 2020, 282 Seiten, 16,90 Euro

Mit dem weiteren Vormarsch der alliierten Streitkräfte wurden in allen Teilen des Deutschen Reiches KZ-Außenlager aufgelöst und Häftlinge auf Transport in Lager in noch nicht besetzten Teilen des Reiches geschickt. Diese Transporte waren natürlich für die Zivilbevölkerung sichtbar. Bezeichnend für die Haltung der deutschen »Volksgemeinschaft« war, dass solche Todesmärsche, insbesondere wenn sie zu Fuß erfolgten, vor allem als Zumutung empfunden wurden. Vielleicht verstärkten die Eindrücke auch die Angst davor, was passieren würde, wenn die Alliierten den Krieg gewinnen, da man ja selber mittelbar beteiligt war an den faschistischen Massenverbrechen. Durchhalteparolen der Nazis führten dazu, dass sogar Wachmannschaften aktiv unterstützt wurden beim Weitertransport der Häftlinge oder beim Verscharren der Leichen der Transporte. Beteiligt waren nicht nur Funktionsträger, Polizisten, lokale Nazigrößen oder Mitglieder von »Volkssturm« und »Hitler-Jugend«. Die Akteure kamen aus allen Schichten und Altersgruppen. Es gab nur wenige Beispiele, dass Menschen den KZ-Häftlingen bei diesen Transporten geholfen hätten.

In der Dokumentation »Mörderisches Finale«, die Ulrich Sander im Auftrag des Internationalen Rombergpark-Komitees und Fördervereins Gedenkstätte Steinwache vor einigen Jahren herausgegeben hat, wurden zum ersten Mal diese Massenverbrechen systematisch zusammengetragen und in den historischen Kontext gestellt. Mehrere dieser Kriegsendeverbrechen wurden exemplarisch mit den bekannten Dokumenten aufgearbeitet. Dazu gehörten die gut erforschten Massenmorde in der Bittermark und in der Wenzelsbergschlucht, aber auch verschiedene Todestransporte aus den Zwangsarbeiterlagern im Ruhrgebiet. Erschreckender als diese Darstellungen ist jedoch das dritte Kapitel des Buches, in dem auf über 100 Seiten zahllose Verbrechen in den letzten Monaten und Tagen des Krieges aufgelistet werden, deren Aufarbeitung zum Teil noch aussteht.

Nur wenige Taten und Tatorte, wie zum Beispiel das Verbrechen in der Isenschnibber Feldscheune in Gardelegen, wurden bereits von den heranrückenden alliierten Streitkräften zum Anlass genommen, an den Orten der Verbrechen Gedenkstätten einzurichten. Andere Plätze, wie der Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe, wo 78 italienische und ein sowjetischer Zwangsarbeiter – vorgeblich wegen Plünderei eines beschädigten Güterwaggons – von der Gestapo ermordet wurden, sind nur aufgelistet. Seit einigen Jahren existiert an dieser Stelle in Kassel eine Erinnerungsstele, an der die Stadt und antifaschistische Verbände seit Jahren symbolisches Gedenken organisieren. Ähnliches gilt für Kornsand (Hessen) oder Meschede im Sauerland.

Alle diese Verbrechen, deren bekannte Täter und Verantwortliche von der bundesdeutschen Justiz nur selten belangt wurden, und wenn dann kamen sie mit harmlosen Strafen davon – sie hatten ja »nur auf Befehl« gehandelt, sind Zeichen für die Menschenverachtung des faschistischen Regimes. Gleichzeitig wurde mit solchen Verbrechen auch eine »Tätergemeinschaft« mit den »Volksgenossen« hergestellt, die verhinderte, dass individuelle Kapitulationen oder die Bereitschaft, beim Heranrücken der Alliierten den Krieg zu beenden, um sich greifen.