Der Aufstand von Sobibor
11. September 2013
»Wir müssen erinnern, damit wir nie vergessen!«
Am 14.Oktober 1943, kurz vor Ausbruch des Aufstandes und der Massenflucht aus dem deutschen Vernichtungslager Sobibor, riefen die Anführer des Aufstandes Leon Feldhendler (Rabinersohn aus Żółkiewka) und der sowjetische Kriegsgefangene Sascha Petscherski, alle KZ-Häftlinge auf, dass sie, falls sie überleben, der Welt die Wahrheit über Sobibor verkünden. In Sobibor wurden nach unterschiedlichen Schätzungen 250.000 Menschen auf brutale Weise durch Motorabgase vergast.
Angesichts des Widererstarkens neofaschistischer Gruppen in ganz Europa, von Deutschland über Polen, bis Ungarn und Bulgarien, und der vermehrten Leugnung des Holocaust selbst in jenen Ländern, in denen er während der deutschen Besatzung stattfand, kommt den noch lebenden Zeitzeugen eine wichtige Aufgabe zu. Die Berliner VVN-BdA erinnert beim diesjährigen »Tag der Mahnung und Begegnung« aus Anlass der 70. Jahrestage bewaffneter Aufstände im Vernichtungslager Sobibor und Treblinka sowie im Warschauer Ghetto an die jüdischen Widerstandskämpferinnen. Zu den letzten, noch lebenden Aufständischen im deutschen Vernichtungslager Sobibor, gehört Philip (Fiszel) Bialowitz.
Sein Erlebnisbericht, welcher dank der Aufzeichnungen seines Sohnes Joseph Bialowitz in dem Buch »A Promise at Sobibór: A Jewish Boy’s Story of Revolt and Survival in Nazi-Occupied Poland« veröffentlicht wurde, belegt eindrücklich, wie vielfältig jüdischer Widerstand war, und dass von den deutschen Faschisten zur Vernichtung bestimmte Juden selbst unter unmenschlichsten Bedingungen bewaffneten Widerstand organisierten.
Als die Häftlinge von Sobibor Ende Juni 1943 die Ankunft eines Transportes jüdischer Häftlinge des Sonderkommandos aus dem Vernichtungslager Bełżec erlebten, die sich noch auf der Rampe aus den Waggons heraus sofort auf die SS-Wachen stürzten, war für sie klar, dass auch sie einen Aufstand vorbereiten mussten. In den Kleidern der ermordeten Häftlinge aus Bełżec fanden Sie eine Nachricht: »Wir sind alle Häftlinge von Bełżec. Die Deutschen benutzten uns bis zur Schließung des Lagers. (…) Es erwartet uns das gleiche Schicksal, das unsere Brüder und Schwestern erreichte. Euch werden Sie auch töten. Lasst Euch nicht betrügen, wie wir! Rächt Euch! Rächt Euch!«
Bialowitz verbreitete den Appell unter den Häftlingen in Sobibor. Im Waldkommando kam es kurz danach zur Flucht von vier Häftlingen, bei der ein ukrainischer SS-Mann mit Äxten erschlagen wurde. Philips Bruder Symcha, der als Pharmazeut arbeitete, versuchte im August, die SS-Wachmannschaften mit einer Überdosis Morphium zu vergiften. Diese Verschwörung wurde durch Unachtsamkeit aufgedeckt. Erneut wurden zur Strafe Menschen ermordet. Andere Häftlinge gruben einen unterirdischen Tunnel, der jedoch kurz vor Fertigstellung entdeckt wurde. Ähnlich wie einige Monate zuvor, als im Lager III, wo die Vergasung stattfand, bereits ein Tunnel gebaut worden war, ermordete man die Widerständler. Eine weitere Aktion der Häftlinge war die Tötung des berüchtigten Kapos Berliner, die als Krankheit getarnt werden konnte.
Das Wunder geschah am 23. September 1943 als in Sobibor ein Transport mit Dutzenden sowjetischen Kriegsgefangenen aus dem Ghetto Minsk ankam. Die Deutschen machten den entscheidenden Fehler, aus diesem Transport ca. 80 Männer auszuwählen, die den Häftlingen in Sobibor helfen sollten das Lager IV, in dem Munition gelagert und delaboriert werden sollte, zu bauen. Dadurch erhielt der Widerstand unter Leon Feldhendler einen entscheidenden Impuls und Unterstützung durch kampferprobte Soldaten unter der Führung von Aleksander »Sascha« Petscherski.
Der Plan der Häftlinge sah vor, dass in der ersten Etappe, am 13. Oktober ab 16 Uhr innerhalb einer Stunde die wichtigsten deutschen SS-Offiziere unbemerkt eliminiert werden sollen. Die SS sollte durch ihre Gier nach Schmuck und Geld an einen verabredeten Ort gelockt werden. Dort warteten Kampfeinheiten aus drei Häftlingen mit Äxten und Messern auf sie. Als nächstes sollte mit den erbeuteten Waffen das Waffenlager gestürmt werden. Bereits zuvor hatten Frauen, die in den Plan eingeweiht waren, im Lager Waffen gestohlen. Die zweite Phase war weitaus schwieriger. Es sollte zu einem offenen Aufstand und zu der Flucht aller, auch der nicht eingeweihten Häftlinge im Lager I und II kommen. Zum Lager III bestand kein Kontakt. Kurz vor dem Appel um 17 Uhr sollten die Telefon- und Elektroleitungen zerschnitten werden. Anschließend sollten die Kapos Pożycki und Bunio die Häftlinge zum Haupttor führen wie zu einem Arbeitseinsatz.
Am Tag des Aufstandes kamen jedoch plötzlich mehrere LKWs mit deutschen Soldaten an. Der Aufstand wurde auf den nächsten Tag verschoben. Am 14. Oktober 1943 verlief am Nachmittag alles nach Plan. Als sich die Häftlinge kurz vor 17 Uhr auf dem Appellplatz versammelten, fielen jedoch Schüsse. Irgendetwas musste schief gelaufen sein. Sofort sprang Sascha auf den Tisch auf dem Appellplatz und rief: »Brüder! Der lang ersehnte Augenblick ist gekommen. Wir haben schon die meisten Deutschen getötet. Erheben wir uns und vernichten diesen Ort. Wir haben kaum Chancen aufs Überleben, aber wenigstens sterben wir ehrenhaft im Kampf. Wenn es jemandem gelingen sollte zu überleben und fliehen, soll er nicht vergessen, dass er verpflichtet ist Zeuge zu sein und der Welt zu berichten über diesen Ort und darüber, was er hier gesehen hat.«
Es entstand ein großes Durcheinander. Die Häftlinge konnten nicht mehr wie geplant durch das Haupttor herausgeführt werden. Der SS-Mann Frenzel konnte nicht liquidiert werden und begann auf die Menschen zu schießen. Die Mehrheit der Häftlinge versuchte, den drei Meter hohen Stacheldrahtzaun zu überwinden und über das Minenfeld zu entkommen.
Von den ca. 650 Häftlingen, die am 14. Oktober 1943 in Sobibor waren, nahmen nach Berechnungen des niederländischen Sobibor-Deportierten Jules Schelvis 365 an der Massenflucht teil. Ca. 285 Häftlinge blieben zurück im Lager und wurden kurze Zeit später ermordet. Ca. 158 Personen wurden durch Schüsse oder Minen getötet. Bis zum 23. Oktober 1943 wurden weitere 107 Flüchtlinge gefasst. Mindestens 22 Flüchtlinge wurden noch vor Kriegsende von Deutschen, Ukrainern oder Polen in der Lubelskie-Region aus antisemitischen oder kriminellen Motiven ermordet. Lediglich 42 Flüchtlinge erlebten nach Schlevis Schätzungen das Kriegsende. Als Rache für die Flucht aus Sobibor wurden alle jüdischen Gefangenen des Vernichtungslagers Majdanek sowie der Arbeitslager Trawniki und Poniatowa ermordet.
Nach der Flucht gelang Philip und seinem Bruder die Kontaktaufnahme zu polnischen Partisanen. Es wurde jedoch schnell klar, dass diese Einheit mehr an ihrem Geld interessiert war und sich offen antisemitisch gebärdete. Die Brüder flüchteten in der Nacht. Sie versteckten sich bei mehreren Bauernfamilien bis sie zur Familie Mazurek in Tarzymiechy gelangten, deren beide Söhne bei der Armia Krajowa (AK) waren. Den Brüdern Philip und Symcha war bewusst, dass es auch bei der AK zu Morden an Juden gekommen war, die entweder antisemitisch motiviert waren oder mit dem Vorwurf prosowjetsicher Sympathien begründet wurden. Dennoch versteckten sie sich bei Familie Mazurek bis zur Befreiung durch die Rote Armee.
Doch die Morde an Juden gingen weiter. Mehrmals wurden die vor der Shoah geretteten Brüder, wie viele andere Juden, von polnischen Nationalisten überfallen und mit dem Tode bedroht. Die polnischen Faschisten der NSZ mordeten auch nach der Befreiung hinterhältig weiter. Unter ungeklärten Umständen wurde nach der Befreiung vermutlich von der NSZ auch Leon Feldhendler ermordet. Bialowitz gelangte nach dem Krieg über Szczecin in mehrere Displaced Persons-Lager u.a. in Berlin Schlachtensee bis er 1950 in die USA auswandern durfte.
Philip (Fiszel) Bialowitz ist den vergangen 25 Jahren als gefragter Zeitzeuge in vielen Ländern aufgetreten. Als Zeuge nahm er auch an mehreren Verfahren gegen Kriegsverbrecher teil, zuletzt an dem Verfahren vorm Landgericht München II gegen den SS-Aufseher John (Iwan) Demjanjuk. Die Kammer verurteilte den 91-jährigen Ukrainer wegen Beihilfe zum Mord in 28.000 Fällen zu fünf Jahren Haft. Das Urteil gilt als Meilenstein der Verfolgung von Nazis durch die bundesdeutsche Justiz, die nach 1945 im Umgang mit NS-Straftätern komplett versagt hat.
Im Zusammenhang mit Kriegsverbrecherprozessen stellte sich Philip Bialowitz oft die Frage nach Vergebung: »Ich weiß, dass Vergebung eine heilende Kraft besitzt. Sie kann mich von Hass befreien gegenüber den Mördern, der mich seit über sechzig Jahren quält. Bestimmt kann ich jenen Banditen vergeben, die doch versuchten, den Opfern zu helfen, zu ihnen nachlässiger waren als andere. Aber ich kann nicht Sadisten vergeben, die jeden Tag töteten, als wäre es irgendein Sport. Es ist sehr schwierig, jemandem zu vergeben, der einen Menschen tötet. Aber was ist, wenn jemand Tausende Menschen ermordet, darunter kleine Kinder?«
Die jüdischen Aufstände in den Vernichtungslagern Treblinka, Sobibor und Aschwitz-Birkenau sowie in mehreren Ghettos belegen, dass die deutschen Faschisten nicht in der Lage waren, die Menschenwürde der KZ-Häftlinge zu zerstören. Es muss hervorgehoben werden, dass angesichts des planmäßigen Mordes an europäischen Juden selbst alltäglich Erscheinendes zum Widerstand wurde, ja das Leben selbst bereits Widerstand war. Philip Bialowitzs Sohn Joe formuliert das im Buch seines Vater folgendermaßen: »Wir sollten über zwei Arten des jüdischen Widerstand sprechen: wenn Juden um ihre Körper kämpften und wenn sie um ihre Seelen kämpften. Durch Rettung ihrer Seelen, schöpften sie Kraft zum Kampf ums Leben oder siegten zumindest durch einen würdevollen Tod. Nicht allein, sondern als Teil einer Gemeinschaft. Beide Widerstandsformen, die bewaffnete und zivile waren ebenso mutig wie wichtig und wir müssen den zukünftigen Generationen darüber berichten.«