Unter Pauschalverdacht
3. Juli 2018
Antiziganismus gehört zum Alltag in Berlin
Wenn ich diese Zigeunerkinder in meiner Klasse habe, muss ich immer lüften, weil sie so stinken.« Das sagte eine Berliner Lehrerin zu einer Kollegin. Eine als Romni wahrgenommene Frau musste zur Gewährung von Unterhaltsvorschuss eine eidesstattliche Erklärung unterschreiben, dass sie weitere Schwangerschaften durch »geeignete Verhütungsmittel« verhindern werde. Einem Rom, der im Görlitzer Park aufsuchende Arbeit für einen sozialen Träger leistete, wurde von der Polizei sein Diensthandy abgenommen mit der Begründung, dass es gestohlen sei.
All diese Vorfälle ereigneten sich in Berlin im Jahr 2017 – neben 164 weiteren direkt gemeldeten diskriminierenden Vorfällen. Das ist im Vergleich zum Vorjahr ein Anstieg von 14 Prozent. Dokumentiert wurden sie von der transkulturellen Jugendselbstorganisation Amaro Foro e.V., ein Verein von Rom*nja und Nicht-Rom*nja. »Amaro Foro« ist Romanes und bedeutet »Unsere Stadt«.Seit 2014 setzt Amaro Foro das bundesweit einzigartige Projekt »Dokumentation antiziganistisch motivierter Vorfälle« um. Antiziganistische und diskriminierende Vorfälle, die sich in Berlin ereignen, werden systematisch erfasst. Außerdem bietet das Projekt den Betroffenen Unterstützung durch Beratung und wenn möglich auch durch Interventionen. Die Vorfälle werden in neun Lebensbereichen erfasst, darunter etwa »Kontakt zu Leistungsbehörden«, »Zugang zu Bildung«, »Kontakt zu Ordnungs- und Justizbehörden« und »Zugang zu medizinischer Versorgung«. Mit Abstand die meisten Vorfälle, nämlich 61, ereigneten sich im Kontakt mit Leistungsbehörden. Darunter fallen etwa abwertende Äußerungen von Behördenmitarbeitern, aber auch die Anforderung irrelevanter Unterlagen oder die Verweigerung der Antragsannahme.
Vielfach geht es dabei um Leistungen, die der Existenzsicherung dienen, so dass schon eine Verzögerung für die Betroffenen gravierende Konsequenzen (fehlender Krankenversicherungsschutz etwa oder Verlust der Wohnung bzw. Verbleiben in der Obdachlosigkeit) haben kann.Hohe Fallzahlen gab es außerdem in den Bereichen Zugang zu Bildung und Alltag und öffentlicher Raum. In Schulen und Kitas kommen Äußerungen wie die oben zitierte auch heute noch immer wieder vor. Rassistische Äußerungen von Lehrkräften oder Erzieherinnen sind als besonders gravierend zu werten, weil diese Personen aufgrund ihrer Machtposition einen großen Einfluss sowohl auf die weitere Bildungsbiografie der betroffenen Kinder und Jugendlichen als auch auf den Rest der Gruppe und die Lernatmosphäre haben. Kritisch sind außerdem die Berliner Willkommensklassen zu sehen- als eine Form der segregierten Beschulung von Kindern ohne Deutschkenntnisse. In einer Befragung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft unter Lehrkräften von Willkommensklassen gab eine Lehrerin an, dass ihre Klasse häufig als »Zigeunerklasse« bezeichnet werde.
Im Bereich Alltag und öffentlicher Raum werden Nachbarschaftskonflikte und Anpöbelungen erfasst, aber auch tätliche Angriffe. In diesem Bereich zeigt sich deutlich eine Konsequenz der strukturellen Leistungsausschlüsse und der Verzögerung durch Leistungsbehörden: Obdachlose Menschen sind einem viel höheren Risiko rassistischer Angriffe ausgesetzt. Die NPD Pankow etwa hat in den vergangenen Jahren immer wieder Medienberichte über wohnungslose und als Rom*nja wahrgenommene Menschen, die etwa in Abrisshäusern leben, über soziale Medien verbreitet und zu Kiezstreifen aufgerufen und diese auch selbst durchgeführt. Neben der akuten Bedrohung hat das die weitere Einschüchterung wohnungsloser Migranten und Migrantinnen zur Folge.
Neben den direkt gemeldeten Vorfällen untersucht das Projekt außerdem die Auswirkungen der Asylrechtsverschärfungen für Roma-Asylbewerber. Die Erklärung der Westbalkanstaaten zu vermeintlich sicheren Herkunftsstaaten leugnet die umfassende antiziganistische Diskriminierung, von der Roma dort betroffen sind. Ein faires, unvoreingenommenes Asylverfahren mit der Möglichkeit kostenloser, unabhängiger Beratung und rechtlichen Beistands gibt es für sie nicht mehr. In großem Stil werden außerdem Menschen, darunter viele Roma, abgeschoben, die bereits seit Jahren oder Jahrzehnten hier leben oder hier geboren wurden. Während etwa anlässlich der Einweihung des Mahnmals für die ermordeten Sinti und Roma Politiker gerne von der historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber dieser Minderheit sprechen, ist in der politischen Realität seit Jahren eine immer weiter gehende Verschlechterung der Situation zu konstatieren.