Einfallstor der Ideologie
29. November 2018
Wieder gelesen: LTI von Victor Klemperer
Victor Klemperer (1881 – 1960), Romanist aus Dresden, ist mit zwei Büchern bekannt geworden. In der Bundesrepublik wurde er 1995 durch seine Tagebücher bekannt. In der DDR dagegen durch das Buch »LTI«. Das Kürzel steht für Lingua Tertii Imperii , die Sprache des Dritten Reiches. Unmittelbar nach der Befreiung vom Faschismus hat sich Victor Klemperer an das Schreiben des Textes gemacht, Die erste Ausgabe ist bereits 1947 erschienen. Sie gehört damit zu den ersten Büchern, die nach 1945 von Überlebenden geschrieben wurde. Nachdem er 1935 von der Universität entlassen wurde, weil er Jude war, und zwei Jahre später auch öffentliche Bibliotheken nicht mehr betreten durfte, legte er den Schwerpunkt seiner Arbeit auf das Schreiben von Tagebüchern. Er schreibt in seiner Einführung zu LTI: »Mein Tagebuch war in diesen Jahren immer wieder meine Balancestange, ohne die ich hundertmal abgestürzt wäre. In den Stunden des Ekels und der Hoffnungslosigkeit, in der endlosen Öde mechanischer Fabrikarbeit, an Kranken- und Sterbebetten, an Gräbern, in eigener Bedrängnis, in Momenten äußerster Schmach, bei physisch versagendem Herzen – immer half mir diese Forderung an mich selber: beobachte, studiere, präge dir ein, was geschieht – morgen sieht es schon anders aus, morgen fühlst du es schon anders; halte fest, wie es sich jetzt kundgibt und wirkt.« Dadurch wurde er zu einem Chronisten des deutschen Faschismus.
Klemperer hat sich bereits sehr früh mit der Sprache im Dritten Reich auseinandergesetzt. Zuerst wollte er eine Art Lexikon verfassen, das Begriffe und Worte der Nazis auflistete. Doch diese Idee hat er schnell wieder verworfen, weil er merkte, dass es nicht mehr als zwei Dutzend Begriffe waren, die er hätte aufnehmen können. Er erkannte aber zugleich, dass das erste Einfallstor faschistischer Ideen die Sprache war. Wenn man verhindern wollte, dass das Gift des Faschismus jemals wieder wirken könne, musste man zeigen, wie es wirkt. Bei Diskussionen und Veranstaltungen mit jungen Menschen stellte er fest, wie tief bei ihnen die nazistische Sprache verankert war. Viele redeten immer wieder von Heldentum und heroischem Verhalten. Doch sie meinten damit nicht die vielen, von den Nazis verfolgten und ermordeten Menschen, oder die, die ihre Menschlichkeit bewahrt hatten und Widerstand geleistet haben. »Im selben Augenblick, wo dieser Begriff im geringsten ins Spiel kam, war die Klarheit verschwunden, und wir staken wieder tief im Gewölk des Nazismus« Sowohl in Hitlers »Mein Kampf«, als auch bei Goebbels Schilderungen über die Zeit vor 1933 spielte Heldentum eine prägende Rolle. »Nicht der Geist ist der Sieger, es geht nicht ums Überzeugen, nicht einmal die Übertölpelung mit den Mitteln der Rhetorik bringt die letzte Entscheidung zugunsten der neue Lehre, sondern das Heldentum der frühestens SA-Männer, der `alten Kämpfer´«
Ergänzt wurde diese Betonung des Helden durch sprachliche Anleihen im Sport. Besonders aus dem Bereich des Boxens und Autorennens . Der Held, der aus der Masse heraussticht und von ihr als Vorbild gebraucht wird. Mit dem Überfall auf Polen 1939, dem Beginn des zweiten Weltkriegs, hat sich dann die Darstellung des Helden geändert. »An die Stelle des Rennkampfwagens tritt von 1939 an der Tank, an die Stelle des Rennfahrers der Panzerfahrer«.
Mit und durch die Sprache veränderte sich die Einstellung der Menschen. Die Abwertung jüdischer Menschen hat sich schon frühzeitig in der Sprache gezeigt. »Alles und jedes in dem den Juden geltenden Teil der LTI ist darauf abgestellt, sie ganz und gar weit vom Deutschtum abzusondern.«
Der Vorstellung, dass es in erster Linie die Reden von Hitler und Goebbels waren, die die Menschen radikalisierten, widerspricht Victor Klemperer. »Nein, die stärkste Wirkung wurde nicht durch Einzelreden ausgeübt, auch nicht durch Artikel oder Flugblätter, durch Plakate oder Fahnen, sie wurde durch nichts erzeugt, was man mit bewußten Denken oder bewußten Fühlen in sich aufnehmen musste. Sondern der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er in millionenfachen Wiederholungen aufzwang und die mechanisch und unbewusst übernommen wurden.«
Genau diese Erkenntnis ist auch heute noch wichtig. Ich habe das Buch LTI nach vielen Jahren jetzt wieder gelesen. Es war für mich ein neu und wieder Entdecken. In einer Zeit, in der in sozialen Medien offen gehetzt wird und führende Mitglieder der AfD versuchen, den gesellschaftlichen Konsens darüber, was sagbar ist ,zu verschieben, ist das Nachdenken über die Sprache der Hetzer keine Luxusbeschäftigung. Es gehört unmittelbar zum Kampf gegen Rechts. Begriffen und Phrasen wie »Merkeldämmerung«, »großer Austausch des Deutschen Volkes«, oder »Messereinwanderung« muss inhaltlich und sprachlich entgegengetreten werden. Dafür ist Victors Klemperers Buch »LTI« ein gutes Lehrbuch.