Zwei Bewegungen
20. Dezember 2018
#unteilbar zeigt, dass die gesellschaftliche Polarisierung zunimmt
1995 begann der leider viel zu früh verstorbene Prähistoriker Klaus Peter Schmidt in einer abgelegenen anatolischen Gegend einen Hügel namens Göbekli Tepe auszugraben. Man fand gewaltige Anlagen, die ganz offensichtlich kultische Bedeutung hatten. Wie sie genau gemeint waren, weiß man nicht und wird man auch kaum herausfinden, aber sicher ist, dass die wundervollen Stelen und Tierfiguren den Menschen Orientierung, Sinn und gesellschaftlichen Zusammenhalt vermittelten. Göbekli Tepe bestätigte einen Verdacht, der schon eine Weile in der Archäologie kursiert. Die Anlage stellt nämlich unser Bild von gesellschaftlicher Entwicklung auf den Kopf. Es kamen nicht erst die Felder, die Dörfer, die Städte und dann die Kathedralen, sondern es war eher umgekehrt. Schon vor 12.000 Jahren, vor Ackerbau und Viehzucht, bevor es Könige und Sklaven gab, strömten tausende Menschen zusammen, um etwas Großes, etwas Bedeutendes zu schaffen, durch das sie alle Zugehörigkeit und Anerkennung finden konnten. Das Fressen ist nicht vor der Moral gekommen.
Dieses menschliche Urbedürfnis nicht zu begreifen, ist die tiefere Ursache für den anscheinend unaufhaltsamen Niedergang der SPD und weiter Teile der Traditionslinken einerseits und den Aufstieg der Grünen andererseits. Die Sozialdemokratie kann dieser Tage tun und lassen was sie will, sie wird fortwährend bestraft dafür, dass sie verantwortlich ist für Hartz IV. Und das vorrangig nicht, weil es um einige Euro mehr oder weniger geht, sondern weil die SPD ein System der Demütigung implantiert und immer weiter mitgetragen hat, das Würde und Anerkennung zerstört. So etwas merken sich die Leute und irgendwann ist das Maß voll.
Jene, die sich heute offen als »Linkspopulisten« bezeichnen, vertreten wiederum ein Menschenbild, in dem die Nicht-Wohlhabenden angeblich kein Interesse an Dingen haben, die über die Daseinsvorsorge hinausgehen. Tun sie das doch, kann das nur ein »Ablenkungsmanöver« der Herrschenden sein, das es zu entlarven gilt. Dass man falscher kaum liegen kann, haben sie unmissverständlich am 13. Oktober in Berlin bei der #unteilbar-Demo mit ihren unglaublichen 242.000 Teilnehmer*innen lernen können – auch wenn sie es, im Unterschied zu den Grünen, wohl kaum lernen werden. Es war eine Veranstaltung, in der himmelhohe Wünsche und Ziele aufgebaut wurden und sei es auch nur für einen Tag. Vollkommen gleichberechtigt standen sozialstaatliche und freiheitliche Forderungen nebeneinander. Es war wie ein bunter Blumenstrauß. Die roten Nelken waren dabei (ganz schön viele sogar), aber erst das Zusammenspiel aller Farben, Texturen und Düfte machte die ganze Schönheit aus. Dahinter gibt es kein Zurück mehr. Wer das versucht, wird aussterben.
Aber auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums sammeln sich die Kräfte als eine breite Bewegung, nur ist das Bild, das einem dazu einfällt, kein schönes. Sie führen sich auf wie eine entfesselte Hetzmeute und das Wild heißt augenblicklich Angela Merkel. Frau Merkel ist, zur Erinnerung, diejenige Politikerin, die die Wehrpflicht abgeschafft hat, die Atomkraftwerke verschrotten lässt und die Ehe für alle durchgesetzt hat. Vor ihrer Ära nicht gerade CDU-typische Forderungen.
Die Meute ist viel größer als der Anglerhut-tragende »Merkel-muss-weg-Mob«. Welch rasender Hass und Vernichtungswille in der Führungsriege der CSU steckt – glücklich, wer ohne Schwesterpartei leben darf – hat man gesehen. Nicht nur crazy Horst will weg von Berlin. Als hätten sie es in den Genen, werden wieder »Festungen« und »Achsen« ausgerufen: Rom – München – Wien, heißt es. Das sind die Geburtsstadt des Faschismus, die Hauptstadt der nationalsozialistischen Bewegung und die Stadt, in der als erster Juden Straßen mit Zahnbürsten putzen mussten. Und sie treffen sich und posieren: Salvini, der Straßenschläger im Ministerrang; Seehofer, der 69 Abschiebungen wie eine Bürgermeisterkette trägt und die Reinkarnation von Haider aus der Hofburg, die einem das schöne Wienerisch verdirbt.
Und dann ist das alles noch nicht rechts genug. Gaulands und Weidels vollenden erfolgreich den ersten Durchgang durch alle Landtagswahlen und erleben doch ihre Version der November-1932-Reichstagswahlen. Man ist stark, aber man wächst nicht mehr, man wächst nicht mehr genug und dann kommt schon die eisige Panik, denn man muss ums Verrecken willen immer weiter tröten und eskalieren und nach der Macht greifen, bevor die Massen begreifen was für ein Verderben hier Gestalt findet.