Ansichten und Widersprüche
7. April 2019
Kontroversen um die »Jüdische Stimme«
Die Verleihung des Göttinger Friedenspreises an den jüdischen Verein »Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost« hat der Präsident des Zentralrat der Juden in Deutschland, Josef Schuster, scharf kritisiert und die Absetzung der Preisverleihung verlangt. Der Verein sei »ein aktiver Unterstützer von Veranstaltungen der gegen Israel gerichteten Boykottbewegung BDS (Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen)«. »Die Auszeichnung einer Initiative, die eine gegen Juden gerichtete Boykott-Initiative unterstützt«, schreibt Schuster, »ist nicht nur des Göttinger Friedenspreises unwürdig, es ist darüber hinaus ein Schlag ins Gesicht der gesamten jüdischen Gemeinschaft in Deutschland und Israel.«
Göttingens Oberbürgermeister Rolf-Georg Köhler und Universitäts-Präsidentin Ulrike Beisiegel, die beide dem Kuratorium der Roland-Röhl-Stiftung angehören, die den Friedenspreis verleiht, zogen daraufhin ihre Mitwirkung an der Preisverleihung zurück. Die Uni-Präsidentin veranlasste die Kündigung der für die Preisverleihung vorgesehenen Räumlichkeiten.
Dennoch kein Grund für Zentralratspräsident Schuster, zufrieden zu sein. Der Vorsitzende der Jury des Göttinger Friedenspreises, Andreas Zumach, hielt an der Preisvergabe fest. Die Preisverleihung sei unanfechtbar. Die Jüdische Stimme werde »für ihr unermüdliches Engagement geehrt, eine gerechte Friedenslösung zwischen zwei souveränen Nachbarstaaten anstreben und erreichen zu können«. Dass der Verein die BDS-Kampagne unterstütze, habe für die Entscheidung der Jury keine Rolle gespielt.
Auch andere Gruppierungen und Persönlichkeiten wandten sich gegen eine Absage des Vorhabens, darunter der bekannte Bielefelder Konfliktforscher, Wilhelm Heitmeyer. Es sei »nirgendwo dokumentiert, dass sich die ›Jüdische Stimme‹ gegen das Existenzrecht Israels ausspricht – im Gegenteil«, betonte Heitmeyer. Es wäre »ein unbegründeter Affront, wenn die Preisverleihung an die ›Jüdische Stimme‹ gestoppt, verzögert oder gar verhindert würde«.
Schon vor der Attacke Schusters gegen die Preisverleihung hatten sich mehr als achtzig namhafte jüdische Wissenschaftler und Intellektuelle in einem Offenen Brief gegen Verurteilungen der Jüdischen Stimme ausgesprochen. Zu den Unterzeichnern gehören auch hierzulande bekannte Personen wie Micha Brumlik, Judith Butler, Alfred Grosser, Eva Illouz und Moshe Zimmermann.
In ihrer Erklärung kritisieren sie: »Zivilgesellschaftliche Organisationen in Israel und weltweit, die sich für die Menschenrechte der Palästinenser einsetzen, werden von israelischen Offiziellen in zynischer Weise als Feinde des Staates, Verräter und zunehmend als Antisemiten abgestempelt.« Die Anfeindungen gegen die Jüdische Stimme seien »bezeichnend für dieses um sich greifende Phänomen und haben uns veranlasst, unsere Sorge gemeinsam zum Ausdruck zu bringen«.
Die Unterzeichner »rufen die deutsche Zivilgesellschaft dazu auf, Antisemitismus unnachgiebig zu bekämpfen und dabei klar zu unterscheiden zwischen Kritik am Staat Israel, so hart sie auch ausfallen mag, und Antisemitismus. Wir fordern weiter dazu auf, die freie Meinungsäußerung jener zu gewährleisten, die sich gegen die israelische Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung wenden und auf der Beendigung dieses Zustandes bestehen.«
In der Auseinandersetzung um die Jüdische Stimme spielt der Vorwurf der Unterstützung der Boykottbewegung BDS eine wesentliche Rolle. Die Boykottbewegung ist in antifaschistischen Kreisen mehr als umstritten, erst recht dort, wo gefordert wird, israelische Wissenschaftler, Künstler oder Geschäftsleute, also Menschen, zu boykottieren.
Ausgangspunkt der Boykottbewegung war sicherlich die Absicht, mit dem Boykott Druck auszuüben, der zur Beendigung des Besatzungsregimes und der Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung beitragen soll. Allerdings gilt auch hier das Prinzip der Gegenseitigkeit. Angriffe und Attentate auf Menschen und Einrichtungen in Israel oder gar das Infragestellen der Existenz des Staates Israel führen zu keiner Beendigung des gegenwärtigen Zustandes, sondern eher zum Gegenteil.
Ebenso deutlich ist festzustellen: Von Boykottaufrufen gegenüber Israel sollten wir Deutschen schon allein aufgrund unserer Geschichte die Finger lassen, wenn auch die Gleichsetzung der Naziparole »Kauft nicht bei Juden« mit dem Boykott von Waren aus besetzten Gebieten mehr als polemisch ist.
Darüber hinaus lässt sich die pauschale Abqualifizierung aller Unterstützer der Boykottbewegung, die übrigens primär in den USA beheimatet ist, als Antisemiten auch nicht rechtfertigen. Nicht zu übersehen ist nämlich, dass zu den Unterstützern viele Juden und auch Israelis gehören. Sie per se als Antisemiten abzustempeln, ist mehr als dürftig, wenn nicht gar Absicht, um der Auseinandersetzung mit den Ursachen und Hintergründen des Konflikts aus dem Wege zu gehen. Rederecht und Räume zu verwehren ist, als wolle man Boykott mit Boykott bekämpfen.