Rückschau auf Verdrängtes
15. Mai 2020
Der antifaschistische Historiker Manfred Weißbecker zieht Bilanz
Vielen Mitgliedern der VVN-BdA und engagierten Historikern dürfte der Name Prof. Manfred Weißbecker geläufig sein. Bei seinen Büchern arbeitete er oftmals mit dem verstorbenen Berliner Historiker Kurt Pätzold zusammen. Werke zur NSDAP-Geschichte (u.a. »Das Firmenschild: Nationaler Sozialismus. Der deutsche Faschismus und seine Partei«), das Buch »Stufen zum Galgen« über die Hauptkriegsverbrecher von Nürnberg oder das »Kleine Lexikon historischer Schlagworte« dürften im Bücherregal vieler Antifaschisten stehen. Der Rezensent selbst erinnert sich noch, Ende der 70er Jahre den Band »Entteufelung der braunen Barbarei« mit großem Gewinn gelesen zu haben. Dabei geht es um eine kritische Auseinandersetzung mit neueren Tendenzen in der Geschichtsschreibung der BRD zu Faschismus und faschistischen Führern. Dass Manfred Weißbecker nunmehr im 85. Lebensjahr einen Rückblick auf sein geschichtswissenschaftliches Schaffen wagt, ist gut zu verstehen.
Aber diese Rückschau ist keine der Selbstzufriedenheit, sondern ein Blick auf ein »geteiltes Historikerleben«, wie er es selbst nennt. Denn Weißbeckers Wirkungsstätte war das Historische Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena, wo er 1967 habilitierte und anschließend seinen Lehrstuhl bis zum politischen Ende der DDR ausfüllte. In einem entwürdigenden Verfahren wurde er 1990 aus allen Positionen vertrieben und 1992 offiziell in den Ruhestand versetzt. Trotz aller Verletzungen und persönlichen Schicksalsschläge fand er die Kraft, seine historische Forschung und Publikationen fortzusetzen. Bis heute wirkt er als Referent und Autor des »Jenaer Forums« und genießt wegen seiner antifaschistischen Positionen hohe Anerkennung. In den letzten dreißig Jahren entstanden zahlreiche Aufsätze und Vortragstexte, da ihm die akademische Lehre selber verschlossen blieb. Unter dem Titel »Noch einmal über die Bücher gehen« hat er nun einen umfangreichen Aufsatzband vorgelegt, der eine Art wissenschaftliche Bilanz des Geleisteten liefert. Eine solche Bilanz scheint nötig, da die Ergebnisse der DDR-Historiker seit vielen Jahren in der bundesdeutschen Historikerzunft schlicht verdrängt beziehungsweise ignoriert werden. Zurecht kritisiert der Autor: »Was hier veröffentlicht wird, ist zudem von der Zunft jüngerer und älterer Historiker noch weniger als die Bücher zur Kenntnis genommen worden.« (22)
Unter fünf Schwerpunkten findet der Leser in dem Band 30 Aufsätze zu den Themen: »Weimarer Republik – Demokratie und Pforte zur Diktatur«, »Die Partei des deutschen Faschismus«, »Führer und Anhängerscharen«, »Das braune Thüringen« und »Faschismuskritik – gestern und heute«.
Der älteste Aufsatz behandelt »biographische Aspekte in der Geschichte der politischen Parteien des deutschen Imperialismus von der Jahrtausendwende bis 1945« (244 ff). In diesem Text zum vierbändigen Standardwerk »Lexikon zur Parteiengeschichte« begründete Weißbecker seinen biographischen Ansatz, den er in Veröffentlichungen zu Adolf Hitler, Rudolf Heß, dem Thüringer Gauleiter Fritz Sauckel und vielen anderen faschistischen Repräsentanten praktisch umsetzte.
Dass seine historischen Betrachtungen längerfristig aktuell sind, zeigt beispielsweise ein Vortrag, den er mehrfach halten musste: »Russophobie in der ideologischen Vorbereitung des Überfalls auf die UdSSR«. (234 ff) Auch sein Vortrag von 2004 , gehalten bei der »Rosa-Luxemburg-Stiftung«, hat bezogen auf die bis heute wirksame ideologische Beeinflussung nichts an Aussagekraft eingebüßt. Der Titel war: »Schüsse ins Gehirn – alte und neue Schlagwörter in unserer Zeit« (268 ff),
Der aktuellste Text ist die vollständige Fassung seines Vortrags beim 10. Treffen der Nachkommen der LAG Buchenwald vom April 2019 zur Notwendigkeit des Erinnerns. Er schloss mit den Worten: »Erinnern an Faschismus und Krieg, erinnern an deren Opfer und die, die diese bekämpften – darin können bemerkenswerte Aspekte rettender Hilfe für unsere menschenwürdige Zukunft gesehen werden!« (459) Eine Aussage, die nicht nur für Historiker perspektivweisend ist.
Manfred Weißbecker, Noch einmal über die Bücher gehen, Texte aus einem geteilten Historikerleben, 468 S., PapyRossa-Verlag Köln 2020, 32 Euro