60 Jahre Grundgesetz

geschrieben von Lorenz Knorr

5. September 2013

Was bleibt vom Erbe des antifaschistischen Widerstandes?

Mai-Juni 2009

Charakterisiert von provokanter Ignoranz des demokratischen Grundgesetztes der BRD findet der 60. Jahrestag seiner Annahme statt. Was als verpflichtendes Erbe des antifaschistischen Widerstandes 1945 zu grundsätzlichen Konsequenzen führte, unterliefen die Kapitalherren schrittweise aber zielorientiert. Was zunächst allgemeiner Konsens war, wurde auf die Herrschaftssicherung der privilegierten Minderheit uminterpretiert. Das Kriegsverbot nach Artikel 25 GG ist jedoch nicht nur verfassungsrechtlich verpflichtend, sondern auch geboten durch das Völkerrecht der UNO-Charta, die nach Artikel 26 GG für die BRD gilt. Der Artikel 139 GG »Befreiung des deutschen Volkes von Faschismus und Militarismus« ist durch nachfolgende Entwicklungen keineswegs überholt; 1972 war er eine Voraussetzung für die Aufnahme der BRD in die UNO.

Nach einer stürmischen Produktivkraftentwicklung in der BRD, die auch möglich wurde, weil zunächst keine Rüstungsausgaben das Staatsbudget belasteten, schrieb eine große Zeitung: »Geld ist an die Stelle von Angriffswaffen getreten.« Das galt jedoch nur, solange die Systemalternative global und die Zweistaatlichkeit auf deutschem Boden die weltpolitische Entwicklung maßgeblich bestimmten. Die danach folgende Teilnahme der BRD an der Nato-Aggression gegen Jugoslawien machte die BRD wieder zu einem kriegführenden Staat. Friedensgebot und Menschenrechte verletzte man mit Irreführungen wie: »ein zweites Auschwitz verhindern«, oder: »mit humanitärer Intervention helfen«.

Hochrüstung und Kriege zehren an den Sozialausgaben. In den Sektoren Bildung, Gesundheit und Soziales mangelte es bereits, bevor die globale Finanzkrise – typisch für kapitalistischen Marktradikalismus – auf die Realwirtschaft übergriff. Das Sozialstaatsgebot des GG Artikel 14 wurde von den Kapitalherren durch Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben bereits in den 50er Jahren ignoriert. Dies steigerte sich dazu, dass durch Massenarbeitslosigkeit und krisenbedingte Verelendung nun auch Artikel 1 »die unantastbare Würde« ausgehebelt wird, ebenso Artikel 2 GG, die »freie Entfaltung der Persönlichkeit«. Menschen, die um die nackte Existenz ringen, drückt man unter normales Mensch-Sein. Kapitalherren und ihnen hörige Politiker wollen eine andere Republik, keine »realdemokratische«.

Artikel 9 des Grundgesetzes verbietet alle Vereinigungen, die gegen die Völkerverständigung wirken. Rechtskonservative und deutschnationale Akteure ließen jedoch neofaschistische Parteien und Verbände zu und gewähren; als Sammelbecken für Unzufriedene, damit sie nicht die Linke verstärken. Terror gegen jüdische Mitbürger und Antifaschistinnen, Provokationen gegen Demokratie und gesellschaftlichen Fortschritt duldet man, als wüsste man nicht, wie einst begann, was 1945 endete.

Schon in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts erkannte man, dass in der BRD ein unversöhnlicher Widerspruch wirkt: einerseits bestand für das Volk, den Souverän, die Möglichkeit, seinen Willen in Wahlen zu bekunden und so auf die Regierungspolitik Einfluss zu nehmen, andererseits wirkte die demokratisch unkontrollierte Kapitalmacht allen emanzipatorischen Bewegungen massiv entgegen. In welcher Richtung soll die Entwicklung nun verlaufen? Wie 1933 nach der großen Krise? Oder nutzt man die gegenwärtige globale Krise, das nicht eingelöste Erbe des antifaschistischen Widerstandes endlich zu realisieren? Artikel 15 des Grundgesetzes ermöglicht die Verstaatlichung der Großwirtschaft, Artikel 20 ermöglicht Widerstand, wenn die Demokratie in Gefahr ist. Politisch Erfahrene wissen, dass Verfassungsfragen stets Machtfragen sind. Das heißt, die realen Kräfteverhältnisse bestimmen, wie viel von einem geschriebenen Grundgesetz tatsächlich realisiert wird, unerledigt bleibt oder ins Gegenteil verkehrt wird. Die Konsequenz ist, dass die progressiven gesellschaftlichen Akteure eine wesentliche Rolle spielen und diese auch ausfüllen müssen. Wir stehen wieder einmal an einem Kreuzweg der Geschichte.