Anna hatte »Lager« – ich auch

geschrieben von Regina Girod

5. September 2013

Kinder von Ravensbrückerinnen erinnern sich

Jan.-Feb. 2012

Lagergemeinschaft Ravensbrück/ Freundeskreis e.V.: Kinder von KZ-Häftlingen – eine vergessene Generation. 254 Seiten, Unrast-Verlag Münster, 18 Euro

Viele Überlebende der faschistischen Konzentrationslager haben bis ins hohe Alter, manche auch ihr Leben lang, über ihre Erlebnisse geschwiegen. Die ungeheuren Demütigungen, Ängste und Verletzungen, die sie erlitten hatten, schienen ihnen unaussprechbar. Die Scham darüber, dass sie der brutalsten Willkür ausgeliefert, nicht mehr als Menschen angesehen worden waren, verschloss ihre Münder. Wie hätte man das auch beschreiben sollen und wer hätte es geglaubt? So versuchten viele Opfer, die Erinnerungen zu verdrängen und das Grauen irgend möglich zu vergessen. Wer jung genug war und gesundheitlich noch in der Lage, suchte bald nach der Befreiung wieder Fuß zu fassen im normalen Leben. Doch die Lager hatten nicht nur körperliche Schäden hinterlassen. Schon 1945 stellten Ärzte bei sehr vielen Überlebenden starke psychische Beeinträchtigungen fest. Mit dem heutigen Begriff beschrieben, erzeugten die Bedingungen der Haft bei einer großen Zahl der Gefangenen schwere Traumatisierungen. Frauen waren davon noch stärker betroffen als Männer.

In Ravensbrück, dem größten Frauenkonzentrationslager auf deutschem Boden, waren 132 000 Frauen und Kinder inhaftiert. Viele Häftlingsfrauen hatten Kinder, über deren Schicksal sie im Ungewissen waren. Einige, als Schwangere verschleppt, gebaren ihre Kinder im KZ. Nach der Befreiung wurden viele Überlebende noch einmal Mutter. Es schien wie ein Symbol des neuen Lebens: aus entrechteten, misshandelten und von Zwangsarbeit zermürbten Frauen wurden wieder Mütter. Doch konnten sie die Folgen ihrer Leiden überwinden? Was gaben sie von dem Erlebten an ihre Kinder weiter – ausgesprochen oder schweigend, bewusst oder unbewusst?

Die Lagerarbeitsgemeinschaft Ravensbrück/Freundeskreis e. V. hat sich diesen Fragen in den letzten Jahren zugewandt. So, wie viele ihrer Mütter erst im Alter angefangen haben, über das Erlebte zu berichten, haben auch die heute meist über 60 Jahre alten Kinder Zeit und Mut gebraucht, der eigenen Geschichte nachzugehen. Schmerzhaftes, Bitteres und Tragisches kamen dabei ebenso ans Licht wie Befreiendes und Schönes. Jetzt hat die LAG Ravensbrück ein Buch herausgegeben, »Kinder von KZ-Häftlingen- eine vergessene Generation«, erschienen im Unrast Verlag. Es enthält die Referate zweier Konferenzen zu der Problematik, ergänzt durch 28 Texte von Betroffenen.

Die in dem Buch enthaltenen Artikel könnten unterschiedlicher nicht sein. Psychologische Traktate stehen neben Interviews und Dialogen, gefolgt von sehr persönlichen Geschichten, deren Anspruch und Gestaltung den Verfasserinnen und Verfassern überlassen blieb. Herausgekommen ist eine spannende Materialsammlung. Wahrscheinlich wird das Fehlen einer Konzeption Außenstehenden den Zugang zu dem Buch erschweren. Mit dem Gegenstand Vertrauten erschließen sich dagegen ungewöhnliche Zusammenhänge, die wiederum zu neuen Fragen führen.

So erscheint auch schon Bekanntes in neuem Licht. KZ-Insassen, die verstanden hatten, weshalb sie verfolgt und misshandelt wurden, besaßen im Allgemeinen eine höhere Moral und mehr Kraft zu widerstehen als jene, die sich scheinbar ohne Grund in der Opferrolle wiederfanden. Außer für die große Gruppe der »Politischen« galt dies vor allem für die Zeugen Jehovas. Der Unterschied in der Bewertung des Erlebten hat sich auch auf ihre Kinder ausgewirkt. So reflektieren Kinder von politisch Inhaftierten im Buch vor allem ihr Bemühen, dem hohen Anspruch ihrer Mütter zu entsprechen und ihr politisches Vermächtnis zu übernehmen. Viel schwieriger, geradezu erschütternd dagegen die Geschichten jener Frauen, deren Mütter als »Kriminelle« oder »Asoziale« galten. Etwa die von Ingelore Prochnow, die in Ravensbrück geboren wurde. Ihre Mutter war mit 17 Jahren ins KZ geworfen worden, der Grund für ihre Haft: »Verkehr mit einem Polen« Wie die Tochter mit den Folgen für ihr eigenes Leben fertig wurde, welche Menschlichkeit und Größte ihr dieses Schicksal abverlangte, hat mich tief berührt.

Das Schweigen ihrer Eltern über »etwas Schlimmes« in der Vergangenheit, das trotzdem immer spürbar war, hat viele Kinder jahrelang belastet. Sie übernahmen unbewusst die Norm: »Darüber spricht man nicht.« Vor diesem Hintergrund wirkt das Gespräch zwischen Anne Günster und dem Sinto Django Reinhardt wie ein später Akt der Emanzipation – für mich ein Höhepunkt des Buches. Es erhellt, was »Schweigen brechen« in seinem tiefsten Sinn bedeutet, nämlich Unaussprechliches mit einem anderen zu teilen. Sich einem Menschen mit-zu-teilen und von ihm Verständnis und Mitgefühl zu erfahren. Vielen Überlebenden ist das verwehrt geblieben. Dass Django Reinhardt mit fast 50 Jahren seinen ersten Gang durch jenes Lager, das sein Vater 13-jährig überlebte, nicht alleine gehen musste, und er in Anne Günster einen solchen Menschen fand, macht Mut. Die Wunden der Vergangenheit können auch heute noch geschlossen werden. Respekt den Frauen und den Männern der LAG Ravensbrück, die sich dieses schweren Erbes der Verfolgung angenommen haben!