„Asozial“ und ausgegrenzt

geschrieben von Lothar Eberhardt

5. September 2013

Veranstaltungsreihe über „Missliebige und Unangepasste“

März-April 2008

Den Abschluss der Veranstaltungsreihe zum Thema „Marginalisierte gestern und heute“, die aus Anlass der sich zum siebzigsten Male jährenden Aktion „Arbeitsscheu Reich“ (Asozialenverfolgung durch Himmler-Erlass) in Berlin durchgeführt wurde, bildeten ein inhaltsschweres Wochenendenseminar im Haus der Demokratie und eine Podiumsdiskussion zur „Rehabilitierung von Asozialen und Gemeinschaftsfremden“, die der Frage nach der Integration von sozial Ausgegrenzten nachging. Damit setzte der Arbeitskreis „Marginalisierte – damals und heute“, von den Medien kaum beachtet, am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus der sich einschleichenden Gedenkroutine eine offene Frage entgegen.

Die Historikerin Christa Schikorra zeigte am Beispiel des“liederlichen Lebenswandels“ von Frauen eindrücklich auf, dass diese soziale Zuschreibung per Definition durch den NS-Staat erfolgte. Die Frauen wussten oft gar nicht, warum sie z.B. ins KZ Ravensbrück eingewiesen wurden. Diese Willkür der sozialen und ideologischen Kategorisierung individualisierte die „Asozialen“ im Gegensatz zu den NS-Opfern mit identitätsstiftender Gruppenzugehörigkeit, wie die „Politischen“, und führt zu deren Ausgrenzung bis heute.

Karl Stenzel, KZ-Häftling und aktiv im kommunistischen Widerstand beschrieb seine Erfahrungen mit den Schwarzwinklern (Asoziale) und den Grünwinklern (Verbrecher). Vor allem Zuhälter quälten als Funktionshäftlinge andere Häftlinge und arbeiteten mit der SS zusammen. Sinti und Roma hätten zumeist auf individuelle Überlebensstrategien gesetzt. Die Solidarität der Leidensgemeinschaft der Häftlinge hatte aber auf jeden Fall Wohnungslose und Bettler mit im Blick.

Frau Manthey, Jahrgang 1931, als Kind einer „asozialen Großfamilie“ mit neun Jahren gerade noch der Gaskammer entkommen, musste im Nachkriegsdeutschland ihre NS-Zuschreibung als „schwachsinnig, bildungsunfähig“ verschweigen, um so weiterer Vorverurteilung zu entgehen. Bis in die 1970er Jahre waren Bettelei, Landstreicherei und Prostitution Delikte des Strafgesetzbuches. „Arbeitsbummelei“ und „unangepasster Lebenswandel“ wurden geahndet, jedoch nicht als NS-Unrecht gesehen. Frau Manthey fiel durch die Raster der Rehabilitierung, da ihre Zwangssterilisation nicht nach gerichtlicher Entscheidungen auf Grundlage des „Erbgesundheitsgesetzes“ erfolgte, sondern auf Grund behördlicher Anordnung.

Das Dilemma der NS- Entschädigungsgeschichte zeigte MdB Ulla Jelpke auf. Sie sitzt für DIE LINKE im Kuratorium der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“. Das Bundesentschädigungsgesetzt (BEG) aus den fünfziger Jahren grenzte 90% der NS-Opfer aus, da es nur „politisch, rassisch und religiös verfolgte Deutsche“ bedachte. Asoziale, Deserteure, Homosexuelle und ausländische Zwangsarbeiter waren nicht vorgesehen. Es gab Härtefonds in vielen Bundesländern und Anträge nach dem „allgemeinen Kriegsfolgengesetz“, das ansonsten vor allem Wehrmachtsangehörigen Schäden an Körper, Freiheit und Gesundheit ersetzte. Seit den 1980er Jahren erfolgten Einmalzahlungen oder laufende Zahlungen an „vergessene NS-Opfer“ zur Rente, wenn „soziale Bedürftigkeit“ oder „besondere Härten“ gegeben war.

Günter Saathoff, jetzt Vorstand der Stiftung EVZ und langjähriger politisch-parlamentarischer Aktivist im Einsatz für vergessene NS-Opfer moderierte kenntnisreich die Podiumsdiskussion und resümierte „einen linearen Fortschritt der Anerkennung der NS-Opfer“ über die Jahre.

Was bleibt ist: Unrecht, Scham und individuelles Leid, sowie seelische Wunden bei den Betroffenen. Denn die „Asozialen“ haben bis heute kaum eine Lobby. Die Wohlfahrtsverbände stellen sich der Verantwortung für ihrer eigene Geschichte in dieser Frage kaum. Die regionale Forschung steht ganz am Anfang. Was nachdenklich stimmt: Armut ist heute wieder ein Makel, scheint individuell verschuldet. Arme werden als „Rand“ der Gesellschaft“ ausgegrenzt und kriminalisiert. Sind das nicht tatsächlich historisch verbindende strukturelle Merkmale?