Befragung von Erinnerungen

geschrieben von Ulrich Schneider

5. September 2013

documenta 13 – Kunst und Antifaschismus

Juli-Aug. 2012

Wer die Presseberichte im Vorfeld der aktuellen documenta in Kassel, die mit dem Anspruch antritt, Kunst der Gegenwart zu präsentieren, verfolgt hat, konnte skeptisch sein, was hier geboten werden würde. Die diesjährige Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev (CCB) wurde mit recht seltsamen Thesen zitiert, das Konzept der Ausstellung schien beliebig zu sein. Doch mit der Öffnung ihrer Pforten für 100 Tage wird deutlich, dass – neben den üblichen Belanglosigkeiten, die natürlich den Kunstbetrieb auch prägen – diese documenta in vielfältiger Form gesellschaftlich Stellung bezieht und einen erkennbaren politischen Anspruch umsetzt.

Erfreulich ist, dass CCB nicht nur den Blick in die Welt – und dort insbesondere den vermarktbaren Teil der Kunstwelt – gerichtet hat, sondern mit mehreren Exponaten die Region und ihre Geschichte integriert, wobei explizit antifaschistische Perspektiven eingenommen werden.

So integriert die Kuratorin ein Werk des Kasseler Künstlers Horst Hoheisel in die diesjährige documenta, das dieser zur documenta 9 vor 25 Jahren vor dem Rathaus der Stadt errichtete – den neu geschaffenen Aschrott-Brunnen. Der historische Brunnen – ein Geschenk des jüdischen Fabrikanten Sigmund Aschrott zum Kasseler Stadtjubiläum 1913 – wurde 1939 von den Nazis zerstört. Horst Hoheisel bezeichnete damals seine Plastik mit der negativ in die Erde ragenden Form des ehemaligen Brunnens als »offene Wunde der Stadtgeschichte« und sie ist bis heute ein Denkmal, das »zum Nachdenken über Verlust auffordert und die kollektive Erinnerung befragt«.

Ein zweites Beispiel, bei dem Erinnerungen an die NS-Zeit eine zentrale Rolle spielen, sind Fotos von Gunnar Richter, dem Leiter der Gedenkstätte Breitenau, die dieser auf der documenta 7 – damals noch im Begleitprogramm der Freien Internationalen Universität von Joseph Beuys – präsentierte. Nun wurden diese Bilder zum offiziellen Bestandteil der documenta 13. Auch die kroatische Künstlerin Sanja Ivekovic beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit Kassel und der Gedenkstätte Breitenau. In ihrer Installation »The Disobedient« nimmt sie zum einen Bezug auf das erste antisemitische Pogrom in Kassel im April 1933, dem »Boykottaktionstag«, bei dem mitten in der Stadt auf dem Friedrichsplatz ein symbolisches »Konzentrationslager für widerspenstige Staatsbürger, die noch bei Juden kaufen« errichtet wurde. Ein Foto aus der »Hessischen Volkswacht«, das in vielen Zeitungen des Deutschen Reichs nachgedruckt wurde, bildet den Rahmen der ersten Installation.

Der Amerikaner Michael Rakowitz beschäftigt sich mit den Folgen des faschistischen Krieges. Vor dem Hintergrund, dass das heutige documenta-Museum früher die Hessische Landesbibliothek beherbergte, die im Oktober 1943 als Kriegsfolge komplett ausbrannte, schuf er mit afghanischen und italienischen Steinmetzen steinerne Nachbildungen einer Anzahl verlorener Bände. Er nennt es eine Botschaft aus der Vergangenheit, die helfen soll, die Traumata, des 20. Jahrhunderts zu überwinden.

Dass dieser Bezug zur Kasseler Zeitgeschichte und zu den Folgen der faschistischen Politik gewollt war, unterstrich CCB mit drei in der NS-Zeit Verfolgten: Korbinian Aigner, Charlotte Salomon und Hannah Ryggen.

Aigner, ein bayerischer Dorfpfarrer, wurde ins KZ Dachau verschleppt, weil er sich der Unterordnung unter die Ansprüche der Nazis widersetzt hatte. In Dachau betreute Aigner den Gemüsegarten und züchtete dort seine später berühmt gewordenen Apfelsorten mit dem Namen KZ-1, KZ-2, KZ-3 und KZ-4. Mit großer Akribie hat Aigner im Laufe der Jahre seine Äpfel in etwa 900 Obstbildern gezeichnet. Zur Erinnerung an diesen Verfolgten des Naziregimes werden nicht nur diese Obstsortenbilder gezeigt, sondern CCB hat zu Ehren Aigners in der Karlsaue zusätzlich einen Korbiansapfelbaum gepflanzt.

Eine Entdeckung aus Norwegen ist Hannah Ryggen, die bereits in den 30er Jahren mit Wandteppichen zu Themen des spanischen Bürgerkrieges, der faschistischen Verfolgung und der drohenden Kriegsgefahr metaphorisch, aber in der Bildersprache eindeutig, politisch Stellung nahm.

Aber nicht nur diese Bezüge zur Zeitgeschichte zeigen den politischen Ansprüche der documenta und vieler Künstlerinnen und Künstler, die diesmal vertreten sind. In zahlreichen Installationen oder Objekten nehmen sie ganz dezidiert Stellung zu politischen Konflikten in der Welt. Hervorgehoben werden sollte auch, dass in diesem Jahr eine große Zahl von Kunstobjekten nicht nur in den Museen, sondern in der Stadt und in der Karlsaue gezeigt werden. Damit öffnet sich die documenta stärker als in früheren Jahren der Bevölkerung. Ihr Angebot ist sehenswert.