Belangloses und Ärgerliches

geschrieben von Dr. Seltsam

5. September 2013

Auf der Berlinale und beim Deutschen Filmpreis

Mai-Juni 2008

Tropa de elite
Brasilien, Argentinien, 2007, 118 min, Regie: José Padilha, Darsteller: Wagner Moura, Caio Junqueira, André Ramiro

Die Welle
Deutschland 2008, 107 min, Regie: Dennis Gansel, Darsteller: Jürgen Vogel, Maren Kroymann

Für den antifa-Filmfan war die Berlinale diesmal nicht sehr ergiebig. Den ersten Preis gewann der brasilianische Semidokumentarstreifen Tropa de Elite (Elite-Einheit) des jungen linken Regisseurs José Padilha. Die Geschichte zeigt das Innenleben der Antidrogen-Polizei in den Favelas, den weltbekannten Armenvierteln.

Auf der Pressekonferenz sagte Padilha, die Armen haben keine Wahl, entweder werden ihre Viertel von den Drogenhändlern beherrscht, die die Kinder zu Kurierdiensten zwingen und alle erschießen, die ihnen widersprechen, oder die Viertel werden von Polizei-Einheiten »befreit«, die viel schlimmer herrschen, für jede Dienstleistung wie Wasser oder TV-Anschluss Gebühren verlangen und binnen zwei Jahren reich sind. Von einigen Medien wurde dieser Film als »protofaschistisch« bezeichnet, weil er in schmerzhafter Intensität die Ausbildungsmethoden der Killerpolizei beschreibt und hautnah ihre Foltermethoden.

Der Film zeige sozusagen »Making of SS« und würde damit bei kritiklosen jugendlichen Zuschauern die Lust am Töten und Foltern auslösen. Aber genau mit diesen Argumenten versuchte die betroffene Polizei selbst, die Aufführung des Films zu verhindern. Doch ein brasilianisches Gericht entschied, dass die Polizei in Wahrheit noch viel schlimmer sei und hat den Film daher zugelassen. Daraufhin wurden die Dreharbeiten behindert wo es nur ging und am Ende wurde sogar noch der Rohschnitt geklaut.

Die Mafia hat den Film illegal kopiert und über 10 Millionen mal verbreitet, noch vor der Premiere! Es gab gesellschaftliche Diskussionen wie nie zuvor, über Drogen-Freigabe und Kontrolle der Polizei (die jährlich allein in Rio über 2000 Menschen killt). Bei soviel positiven Wirkungen ist jede mäkelige Kritik fehl am Platz. Gedreht wurde mit mehreren Kamerateams, die Darsteller agierten ohne Unterbrechungen, so dass die Aufnahmen wie Bilder von Nachrichtensendungen wirken, ohne das künstliche Verwackeln und Verwaschen wie beim dänischen »Dogma«. Mindestens für diese originelle Machart war der Goldene Bär berechtigt.

Vor allem auch, weil die anderen Filme fast alle ziemlich belanglos bis ärgerlich waren. Ich bin schon froh, dass wenigstens der rassistische Film »Katyn« von Andrzej Wajda keinen Preis abbekommen hat: Über eine Stunde lang wird dem Zuschauer vorgeführt, wie dumpfe sowjetische Kretins die Blüte des polnischen Adels per Genickschuss töten.

Eine Szene aus dem französischen Beitrag »Plus tard, tu comprendras« von Amos Gitai mit der hinreißenden Jeanne Moreau als coole Großmutter war der mit Abstand schönste Moment der ganzen Berlinale: An Jom Kippur geht sie mit ihren gelangweilten Enkeln in die Pariser Synagoge. Sie enthüllt ihnen überraschend, dass sie verfolgte Jüdin war und übergibt ihnen ihren seit Jahrzehnten verheimlichten Judenstern. Bald darauf stirbt sie. Ein Vermächtnis für uns alle; demnächst zu sehen auf »Arte«. Der Film wurde nach den Erinnerungen des französischen Arte-Chefs gedreht.

Beim Deutschen Filmpreis am 26. April wurde »Die Welle« von Dennis Gansel mit dem prolligen Gewaltschauspieler Jürgen Vogel als Beitrag zur Aufklärung über die faschistische Verführung der Jugend gehandelt. Ein grobes Missverständnis! Wer vom Faschismus erzählt ohne den Kapitalismus zu erwähnen, beweist zwar, dass fast jeder Mensch unter entsprechendem Gruppendruck zu minderheitsfeindlichem und unterdrückerischem Verhalten fähig ist. Aber was ist damit gewonnen? Es geht doch darum, gesellschaftliche Entwicklungen zu verhindern, die entsprechend bereite Menschen zu Faschisten werden lässt. Nur das Wissen, dass in jedem ein kleiner Nazi stecken könnte, reicht dazu einfach nicht aus.