Blick auf einen Jahrestag

geschrieben von Kurt Pätzold

5. September 2013

Gedanken zum 30. Januar aus heutiger Perspektive

Jan.-Feb. 2008

Am 30. Januar 2008 trennen uns exakt 75 Jahre von jenem Ereignis, das zuerst in den deutschen, wegen seiner Folgen dann auch in den Annalen der europäischen Geschichte verzeichnet wurde. Reichspräsident Paul von Hindenburg ernannte Adolf Hitler zum Reichskanzler. Der trat an die Spitze einer Regierung, die von »nationalsozialistischen« und weiteren Politikern der äußersten Rechten gebildet wurde, allesamt Gegner der 1919 entstandenen Republik und deren Totengräber. Mit dem vorletzten Januartag begann ein zeitlich kurzer Prozess, in dem die Konterrevolution, die 1919 einen Teilerfolg errang und 1923 gescheitert war, nun zu ihrem Ziel gelangte.

Heute ist dieses Datum aus der Zeitgeschichte gerückt, wenn man unter ihr jene Periode jüngster Vergangenheit versteht, an die sich Lebende zu erinnern vermögen. Denn dies kann nur noch ein verschwindender Rest von Deutschen, der unterdessen ein biblisches Alter erreicht hat. Und nicht alle standen damals inmitten des Geschehenen. Einige jedoch erinnern sich des Aufmarsches vom 25. Januar 1933, als Kommunisten und deren Sympathisanten in einer antifaschistischen Demonstration vor das Karl-Liebknecht-Haus am Bülow-Platz zogen, damals Sitz der Zentrale der KPD, und damit auf den provokatorischen Appell antworteten, den die SA und die SS drei Tage zuvor an gleicher Stelle inszeniert hatten. Der Massenaufmarsch bei bitterer Kälte war beeindruckend und irritierend zugleich. Er vermittelte ein Stärkegefühl und eine Kampfbereitschaft, die sich, als sie wenige Tage später auf die ernsteste Probe gestellt wurde, nicht in Aktion umsetzen ließen. Der deutsche Faschismus gelangte an das Staatsruder, ohne dass es zu einer offenen Feldschlacht gekommen wäre.

Diese Erfahrung macht den Tag für die Antifaschisten im begonnenen 21. Jahrhundert denkwürdig. Er lässt das Maß der eigenen Kräfte und deren Einsatz bedenken. Er enthält eine Warnung vor Selbstüberschätzung. Er erinnert uns daran, welche jähen Wenden die Geschichte nehmen kann, wenn gegen sie keine Vorkehrungen getroffen sind. Und er unterrichtet uns über den Wert handlungsbereiter Einheit, an der es damals unter den Antifaschisten fehlte.

Denkwürdig ist dieser Tag aber auch aus anderer Perspektive. Er verbindet sich mit trügerischen Erwartungen von Millionen, die in Hitler den Erlöser und Retter erblickten, als der er sich selbst präsentierte und als der er ihnen auf Kundgebungen, von Plakaten, in Zeitungen begegnete. Der Mann hatte nichts vorzuweisen, was ihn als einen Politiker auswies, der Masseninteressen praktisch vertreten hätte, und dennoch wurde ihm abgenommen, dass sein Programm auf die »Rettung des deutschen Arbeiters« und die »Rettung des deutschen Bauern« zielen würde, zu dessen Verwirklichung er sich vier Jahre Zeit vom Volke erbat. Die in Hitler gesetzten Erwartungen von Millionen entsprangen nicht tatsachengestütztem Urteil, sondern dem Glauben, genauer einem Irrglauben, und so lässt sich angesichts diesen bedrückenden Faktums fragen, woher diese Möglichkeit der Desorientierung von Menschenmassen rührt, wie sie genutzt wird und wie ihr zu begegnen ist. Denn sie ist doch auch eine Erscheinung unseres Alltags.

Über die Folgen des 30. Januar 1933 ließ sich unter Politikern und später unter Historikern nicht streiten. Wohl aber über dessen Verursachung. Die unvereinbaren Deutungen reichten von der These, die Mächte des Versailler Vertrags wären dafür verantwortlich zu machen, also vom Export der Schuldfrage, bis zu der These vom »Betriebsunfall« deutscher Geschichte, also der Behauptung, es habe sich um ein Zufallsspiel geschichtlicher Kräfte gehandelt. Das Bild, das den herausragenden und letztlich ausschlaggebenden Anteil der deutschen wirtschaftlichen, politischen und militärischen Eliten am Ende der Weimarer Republik zeigt, wird als »marxistisch« und dogmatisch denunziert. Es wurde quellensatt zuerst von den Anklägern des Nürnberger Prozesses 1945/1946 der Weltöffentlichkeit bekannt gemacht. Und es wird umstritten bleiben, denn es beweist, dass die Kreise des Kapitals zu Demokratie und Republik ein pragmatisches Verhältnis besitzen..

Das Spektrum der Fragen, das sich mit dem 30. Januar verbindet, ist breit und in vielen Farben aktuell. Sie enthalten nach wie vor eine Herausforderung. Die Antifaschisten müssen sich ihr stellen, mit dem Blick auf die Erfahrungen ihrer Vorfahren und einem zweiten – in den Spiegel.