Das Massaker von Babij Jar

geschrieben von Gerald Netzl

5. September 2013

Erinnerung an ein barbarisches Verbrechen

Sept.-Okt. 2011

Quelle: Paul Celan: Gesammelte Werke. Bd. 5. Übertragungen II. Frankfurt/M. 2000, S. 288ff

Die Informationen im nebenstehenden Artikel sind weitgehend dem Buch »Orte des Grauens – Verbrechen im Zweiten Weltkrieg« von Gerd R. Ueberschär entnommen. Das Buch gibt Auskunft über 26 Ortsnamen, die sich als Stätten unfassbarer Verbrechen in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt haben.

Vor 70 Jahren fand an zwei Tagen im September 1941 in Babij Jar (dt. »Weiberschlucht«) bei Kiew die größte einzelne Mordaktion an jüdischen Kindern, Frauen und Männern während des Zweiten Weltkriegs statt. Die jüdische Bevölkerung Kiews, 220.000 Menschen, war zum großen Teil vor dem Einmarsch der Wehrmacht geflohen, etwa 50.000 waren zurück geblieben, vorwiegend ältere Männer, Frauen und Kinder.

Vor Abzug der Roten Armee hatte der NKWD fast alle öffentlichen Gebäude unterminiert und mit Fern- und Zeitzündern zur Sprengung vorbereitet. Wenige Tage nach der Eroberung am 19. September 1941 kam es im Kiewer Stadtzentrum zu Explosionen und Bränden, bei denen mehrere hundert Wehrmachtsangehörige, darunter auch zahlreiche Offiziere, und EinwohnerInnen ums Leben kamen. Der zwei Wochen dauernde Flächenbrand konnte nur unzureichend bekämpft werden. Keine Hauptstadt Europas empfing Hitlers Soldaten nach anfänglich überwiegend freundlicher Begrüßung durch die Bevölkerung so abweisend und bedrohend wie das brennende Kiew. Adolf Hitler hatte Mitte August den Befehl gegeben, Kiew durch Luftwaffe und schwere Artillerie in Schutt und Asche zu legen, doch wurde dieser Befehl nicht befolgt. Durch die folgenden verlustreichen Explosionen und Brände war die Armeespitze gefordert, Maßnahmen zur Besänftigung des »Führers« zu ergreifen und wollte selbst auch Rache nehmen.

Wehrmachts- und SS-Offiziere beschlossen, als »Vergeltung« einen Großteil der Kiewer Jüdinnen und Juden zu töten und tarnten dieses Vorhaben als »Evakuierungsaktion der Juden«. Am 28. September wurden dreisprachige (Russisch/Ukrainisch/Deutsch) Plakate in ganz Kiew angebracht: »Alle Juden der Stadt Kiew und seiner Umgebung haben am Montag, den 29. September 1941 um 8 Uhr morgens an der Ecke der Mel’nikovskaja- und Dochturovskaja-Straße (neben den Friedhöfen) zu erscheinen. Dokumente, Geld, Wertsachen und auch warme Kleidung, Wäsche usw. sind mitzubringen. Wer von den Juden diese Anordnung nicht befolgt und an einem anderen Ort angetroffen wird, wird erschossen. Wer von den Bewohnern in die von den Juden verlassenen Wohnungen eindringt und sich Sachen aneignet, wird erschossen.« Die Irreführung und Beruhigung der Opfer, die »nur« mit einer Deportation rechneten, gelang.

Entsprechend dem Einsatzbefehl der Einsatzgruppe Nr. 101 wurden am 29. und 30. September 1941 innerhalb von 36 Stunden 33.771 Jüdinnen und Juden bei Babij Jar systematisch durch Maschinenpistolenfeuer erschossen. Die Schlucht war ca. 10 Meter tief, etwa 400 Meter lang, oben etwa 80 Meter breit und unten etwa 10 Meter breit. Sie wurde, wie es in einem späteren Prozess-Protokoll heißt, »mit mehreren Schichten der Opfer von hinten nach vorne und von Rand zu Rand gefüllt.« Die Wehrmacht leistete mehr als nur logistische Hilfe, indem sie die Stadt und den Erschießungsort absicherte und nach dem Massaker Teile der Schluchtwände sprengte, um mit dem abgesprengten Schutt die Leichenberge zu verstecken. Im Sommer 1943 wurden die Leichen der Massengräber enterdet und verbrannt, um die Spuren des Massakers vor der heranrückenden Roten Armee zu beseitigen. Bis zur Einnahme Kiews durch die Roten Armee im November 1943 fanden weitere Massenerschießungen statt, bei denen sowjetische Kriegsgefangene und etliche ZivilistInnen unterschiedlicher Nationalitäten getötet wurden. Insgesamt betrug die Anzahl der Opfer unterschiedlichen Schätzungen zufolge 150.000 bis 200.000 Tote.

Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal.

Ein schroffer Hang – der eine unbehauene Grabstein.

Mir ist angst.

Ich bin alt heute,

so alt wie das jüdische Volk.

Ich glaube, ich bin jetzt

ein Jude.

Wir ziehn aus Ägyptenland aus, ich zieh mit.

Man schlägt mich ans Kreuz, ich komm um,

und da, da seht ihr sie noch:

die Spuren der Nägel.

Dreyfus, auch er,

das bin ich.

Der Spießer

denunziert mich,

der Philister

spricht mir das Urteil.

Hinter Gittern bin ich.

Umstellt.

Müdgehetzt.

Und bespien.

Und verleumdet.

Und es kommen Dämchen daher, mit Brüsseler Spitzen,

und kreischen und stechen mir ins Gesicht

mit Sonnenschirmchen.

Ich glaube, ich bin jetzt

ein kleiner Junge in Bialystok.

Das Blut fließt über die Diele, in Bächen.

Gestank von Zwiebel und Wodka, die Herren

Stammtisch-Häuptlinge lassen sich gehn.

Ein Tritt! mit dem Stiefel, ich lieg in der Ecke.

Ich fleh die Pogrombrüder an, ich flehe – umsonst.

»Hau den Juden, rette Rußland!« -:

der Mehlhändler hat meine Mutter erschlagen.

Mein russisches Volk!

Internationalistisch

bist du, zuinnerst, ich weiß.

Dein Name ist fleckenlos, aber

oft in Hände geraten, die waren nicht rein;

ein Rasselwort in diesen Händen, das war er.

Meine Erde – ich kenne sie, sie ist gut, sie ist gütig.

Und sie, die Antisemiten, die nieder-

trächtigen, dass

sie großtun mit diesem Namen:

»Bund des russischen Volks«!

Und nicht beben und zittern!

Ich glaube, ich bin jetzt sie:

Anne Frank.

Licht-

durchwoben, ein Zweig

im April.

Ich liebe,

Und brauche nicht Worte und Phrasen.

Und brauche:

dass du mich anschaust, dass ich dich anschau.

Wenig Sichtbares noch,

wenig Greifbares!

Die Blätter – verboten.

Der Himmel – verboten.

Aber einander umarmen, leise,,

das dürfen, das können wir noch.

Sie kommen?

Fürchte dich nicht, was da kommt, ist der Frühling.

Er ist so laut, er ist unterwegs, hierher.

Rück näher…

Mit deinen Lippen. Wart nicht.

Sie rennen die Tür ein?

Nicht sie. Was du hörst, ist der Eisgang,

die Schneeschmelze draußen.

Über Babij Jar, da redet der Wildwuchs, das Gras.

Streng, so sieht dich der Baum am,

mit Richter-Augen.

Das Schweigen rings schreit.

Ich nehme die Mütze vom Kopf, ich fühle,

ich werde

grau.

Und bin – bin selbst

ein einziger Schrei ohne Stimme

über tausend und aber

tausend Begrabene hin.

Jeder hier erschossene Greis -:

ich. Jedes hier erschossene Kind -:

ich.

Nichts, keine Faser in mir,

vergisst das je!

Die Internationale —

ertönen, erdröhnen soll sie,

wenn der letzte Antisemit, den sie trägt, diese Erde,

im Grab ist, für immer.

Ich habe kein jüdisches Blut in den Adern.

Aber verhasst bin ich allen Antisemiten.

Mit wütigem, schwieligem Hass,

so hassen sie mich –

wie einen Juden.

Und deshalb bin ich

ein wirklicher Jude.