Das Wort der Stummen

geschrieben von Heinrich Fink

5. September 2013

Erinnerung an die jüdische Dichterin Gertrud Kolmar

März-April 2008

Frühe Veröffentlichungen:

Gedichte. Egon Fleischel und Co., Berlin 1917, Preußische Wappen, Verlag Die Rabenpresse, Berlin 1934

Die Frau und die Tiere. Gedichte. Jüdischer Buchverlag Erwin Löwe Berlin, erschienen im Herbst 1938, gleich danach eingestampft

Editionen mit Gedichten von Gertrud Kolmar erschienen in den 60er und 70er Jahren in der DDR und der BRD.

Gertrud Käthe Chodziesneh, die unter dem Pseudonym Gertrud Kolmar in die Literaturgeschichte eingegangen ist, wurde am 10. Dezember 1894 in einer angesehenen Berliner jüdischen Familie geboren. Ihr Vater war Rechtsanwalt. Ein Todesdatum von ihr ist nicht festzustellen. Ihr letztes Lebenszeichen stammt vom 27. Februar 1943. Da ist sie in der Liste der abtransportierten Berliner Juden nach Auschwitz verzeichnet. Seitdem ist sie verschollen. Überlebt hat aberihr literarisches Werk. Es gib Einblick in ihr Leben, Denken und ihren Protest gegen Krieg, sinnloses Sterben und Ungerechtigkeit. Im Ersten Weltkrieg ist sie von ihrem Freund verlassen worden. Die Kriegswirren und das Verhalten ihrer unkritischen Mitbürger an dem Zustandekommen von Krieg und das Querulieren um den Versailler Vertrag erlebt sie nicht ohne Groll. Sie wählt den Beruf einer Dolmetscherin, also Sprach- und Verständnismittlerin. Später wird sie Erzieherin für taubstumme Kinder. Sie erlebte die Hoffnung der Revolution 1919 und empfand viel Sympathie für die Weimarer Republik. Die Machtübertragung am 30. Januar 1933 sah sie als „Verrat am deutschen Geist“.

Die dringenden Bitten von Freunden, wegen der Bedrohung der Juden Deutschland zuverlassen, wehrt sie ab. Ihre Beweggründe: die Vorstellung von Menschen, „denen sie grausam die Rippen brechen“ erlaubte ihr weder die „äußere“ noch“innere“ Emigration. Sie wollte nicht fliehen und wollte nicht aufgeben. Siekämpfte mit ihren Gedichten im Jahre 1933 für ihre Überzeugung und gegen dieTerroraktionen der Faschisten, erlebte erschüttert die Lügen über den Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 und die darauffolgende Welle von Verfolgungen und Verhaftungen von Kommunisten. Mit großer innerer Beteiligung beobachtete sie den Reichstagsprozess vom 21. September bis zum 23. Dezember. Am 30. September schrieb sie den Vers: „Oh, ich müsste mit euch, in Krämpfen, verprügelt, hungrig, verlaust, Hinkriechen …“ Und sie fährt fort: „Das wird kommen, ja, das wird kommen; irrt euch nicht! Denn da dieses Blatt sie finden, werden sie mich ergreifen“.

Unter dem Eindruck des Judenhasses und der Ausgrenzung schreibt sie im September 1933: „Nur Nacht hört zu: ich liebe dich, mein Volk im Plunderkleid: Wie der heidnischen Erde, Gäas Sohn entkräftet zur Mutter glitt, so wirf dich du dem Niederen hin, sei schwach umarme das Leid, bis einst dein müder Wanderschuh auf dem Nacken der Starken tritt.“ Ihre erschütternde Gedichte über die Misshandlung von Juden betonen den sozialen Missstand; die Leidenden sind Hungernde, Bettler, arme Witwen. Und den Hohn der Schläger macht sie deutlich in der Zeile: „du putzt dich auf als Jesus Christ, und bist doch nur ein Jud‘ und Kommunist“.

1941 wird ihr 80-jähriger Vater nach Theresienstadt transportiert und sie selbst als Zwangsarbeiterin in eine Kartonagenfabrik verpflichtet. Am 27. Februar holen die Nazis auch sie ab. Wahrscheinlich wurde sie zum Sammelplatz Grunewald gebracht.

Schon des Unterganges gewiss und den Tod vor Augen vertraut Gertrud Kolmar ihWort den Späteren an. Sie erwartet von denen, die ihre Gedichte lesen, mehr „als Sand in den Schuhen, Kommender zu sein.“ Sie erwartet für sie eine Zeit, die Gerechtigkeit bringen wird: „aller Lippe wird der Krug gehoben“ … „da ein neues Volk Gerechtigkeit ehrt.“ Erhalten geblieben sind auch jene 22 Gedichte Gertrud Kolmars aus dem Jahre 1933, die – wie durch einen Zufall – von Hilde Benjamin aufgehoben und vor einigen Jahren beim Durchsehen des Nachlasses von Georg Benjamin wiedergefunden wurden. Getrud Kolmar war eine Verwandte des Sozialwissenschaftlers und Arztes Georg Benjamin, der seit 1922 Mitglied der KPD war und 1942 wegen Hochverrates in Mauthausen ermordet wurde. Und auch der bedeutende Essayist Walter Benjamin, in dessen Briefwechsel sie mehrmals erwähnt wird, war mit der Dichterin verwandt.

Hilde Benjamin schreibt: „…sie gab sie mir, ein Päckchen Manuskriptblätter: ‚Nimm‘. Ich nahm sie als Vermächtnis, ungelesen. Ich wagte mich an sie sowenig, wie an die Briefe und Papiere meines Mannes. Mit ihnen waren sie verpackt, versteckt und verwahrt. So verwahrt, wie das Erleben dieser Jahre zunächst tief versank und ich nicht daran zu rühren wagte.“