Endstation Riga

geschrieben von Hans Canjé

5. September 2013

Wie das Münsterland mit Hilfe der Reichsbahn »judenrein«
wurde

März-April 2009

Determann/Ester/Spieker: Die Deportationen aus dem Münsterland. Katalog zur Ausstellung im Gepäcktunnel des Hauptbahnhofs von Münster vom 18. Mai bis 15. Juni 2008. Münster 2008, 15. Bezug: Geschichtsort Villa ten Hompel, 48145 Münster, Kaiser-Wilhelm-Ring 28, E-Mail: tenhompel@stadt-münster.de

»In den Tod geschickt«

Bis zum 26. April 2009 ist eine Ausstellung mit diesem Titel in der Hamburger Kunsthalle ((Klosterwall19, Dienstag bis Sonntag 11-18,00 Uhr) zu sehen.

Die am 15. Februar eröffnete Ausstellung erinnert an die mindestens 7.962 Juden und Sinti und Roma, die von den Hamburger Behörden vom Hannoverschen Bahnhof aus mit 20 Transportzügen in die Ghettos und Vernichtungslager deportiert wurden. Bis 2017 soll auf diesem Gelände eine Gedenkstätte entstehen.

Was mag im Kopf des Dorfpolizisten von Heek im münsterländischen Ahaus vorgegangen sein, als er am 10. Dezember 1941 diese »Quittung« verfasste: »Die Juden 1. Siegmund Israel Gottschalk, 2. Rosalie Sarah Gottschalk, geb. Salomonson, erhalten zu haben bescheinigt…«?

Was mag im Kopf jenes Lokomotivführers der Deutschen Reichsbahn vorgegangen sein, der am 13. Dezember 1941 auf dem Bahnhof von Bielefeld so fröhlich lächelnd aus dem kleinen Fenster der Lokomotive 93 062 blickend abgelichtet wurde? Wusste er, dass in den anhängenden Waggons 1031 Menschen eingesperrt waren, die in den Tagen zuvor im Rahmen einer von der Gestapo und den staatlichen Dienststellen koordinierten Aktion zusammen getrieben worden waren? Dass er sie auf den Transport ohne Rückkehr brachte?

An diesem 13. Dezember fuhr der erste Transport mit Juden aus dem Münsterland nach Riga, wo sie am 16. Dezember ankamen und im dortigen Ghetto interniert wurden. Von diesem ersten Transport überlebten nur102 Jüdinnen und Juden. Am 31. Juli 1942 ging der nächste Transport auf die Reise mit Endziel Konzentrationslager Theresienstadt. Der letzte von insgesamt sechs dieser Todeszüge verließ Münster am 13. Februar 1945.

Die »Quittung« des Dorfpolizisten von Heek und das Bild des strahlenden Lokführers sind in einem Katalog enthalten, den der Geschichtsort Villa ten Hompel in Münster gemeinsam mit der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit zu der im vergangenen Jahr gezeigten Ausstellung »Die Deportationen aus dem Münsterland« herausgegeben hat. Sie war als Ergänzung zu der von der Bundesbahn nach jahrzehntelangem Verdrängen der Mitwirkung der Reichsbahn am faschistischen Massenmord erst im Januar 2008 eröffneten Wanderausstellung »Sonderzüge in den Tod – Die Deportationen mit der Deutschen Reichsbahn« konzipiert und wurde mit ihr zusammen an einem Ort auf dem Bahngelände gezeigt, von dem aus sich die Todeszüge in Bewegung gesetzt hatten..

Auf einem überschaubaren Raum wird hier sichtbar, dass die Reichsbahn mit ihrem Transportaufkommen ein, wie der Historiker Raul Hilberg formulierte, »unerlässliches Element in der Vernichtungsmaschinerie« des Regimes war. Erkennbar wird, wie dieses System auf dem Boden eines tief verwurzelten Antisemitismus in dieser katholisch geprägten Region funktionierte. Und das nicht erst seit 1933. Im Katalog sind die Dokumente dazu nach zu lesen, sind die Bilder von den tief gedemütigten Juden zu sehen, die mit der ihnen gestatteten kärglichen Habe von der »Ordnungspolizei« in die Waggons getrieben werden. Ihr Eigentum war ihnen geraubt worden. Bis auf 50 RM – die hatten die Opfer für den Transport in die Todeslager selbst als Gebühr zu zahlen.

Zu sehen sind die Deportationslisten mit den Rubriken Alter und »arbeitsfähig«. Manfred Cohn war sieben, Paul Steinweg acht Jahre alt. Unter den laufenden Nummern von 247 bis 255 sind die Angehörigen der Familie Perlstein mit den Kindern Anni (neun Jahre) und Else (acht Jahre) erfasst. Manfred Frank war am Tag der Deportation nach Riga fünf Jahre alt. Die »Ordnungspolizei« hatte für das Gebiet des heutigen Landes Nordrhein-Westfalen ihren Sitz in der Villa ten Hompel. Von hier aus wurden auch die Polizeiformationen in Gang gesetzt, die in den Vernichtungslagern im Osten die »Endlösung« exekutierten. In diesem Haus trafen die wenigen zurückgekehrten Juden nach 1945 auf so manchen, der damals ihre Deportation verfügt und vollstreckt hatte: Nun war das Amt für Wiedergutmachung hier untergebracht worden. Diesem Kapitel ist in der Villa ten Hompel seit 2001 eine ständige Ausstellung gewidmet. In dem empfehlenswerten Katalog kommt es leider nicht vor.