Eroberung des Kiezes

geschrieben von Regina Girod

5. September 2013

oder: Das Bild des Nachbarn an meinem Balkon

Jan.-Feb. 2007

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Kontakt: fetter Engel e. V.

Winsstr. 09

10405 Berlin

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In der Woche vor Weihnachten, als alle schon im Festtagsstress steckten, geschah Seltsames in einem alten Viertel im Berliner Prenzlauer Berg. Innerhalb weniger Tage tauchten an ver-schiedenen Balkonen große Plakate mit schwarz-weißen Porträtfotos auf. Männer, Frauen und Kinder, Alte und Junge blicken seitdem von oben auf die Passanten herab. Wie eine Werbeak-tion wirkt das. Nur wofür? Am Rand jedes Fotos steht zweifarbig das Wort „mitmensch“. Das ist alles. Und dass man die porträtierten Mitmenschen durchaus auch unten auf der Straße treffen kann. Einige sind dabei, die jeder in der Gegend kennt, etwa die Frau vom Spätkauf, oder der alte Mann, der schon ewig hier wohnt und Tag für Tag durch die Straßen läuft. Denn die Porträtierten stammen samt und sonders aus dem Kiez. Genauso wie die Künstler, die sie fotografiert haben. Denen ist auch die Idee zu dieser ungewöhnlichen Kunstaktion zu verdan-ken.

Der Winskiez, von dem hier die Rede ist, ist eines jener Wohnviertel, die sich in den letzten Jahren unaufhörlich verändert haben. Durch Modernisierung der oft mehr als hundert Jahre alten Häuser entstanden wunderschöne, aber teure Wohnungen, die sich nur noch Gutverdie-nende leisten können. Doch auf der anderen Seite existiert hier auch noch genügend alte Bau-substanz mit billigen Wohnungen, in denen Studenten, Rentner und Arbeitslose leben. Und Künstler natürlich. Musiker, Maler, Autoren, Filmemacher. Viele haben schon zu DDR-Zeiten hier gewohnt, wahrscheinlich noch mehr sind erst in den letzten Jahren zugezogen, nicht bloß aus dem Westen, sondern aus der ganzen Welt. Angelockt von dem Ruf Berlins als junger, kreativer Stadt mit bezahlbaren Mieten. Im Winskiez leben sie alle bunt durcheinander: Deutsche und Ausländer, Arme und Reiche, Alte, Junge und Kinder. Und genau das do-kumentiert die ungewöhnliche Ausstellung an den Balkonen.

Von den vierzig Porträtierten sind 15 nichtdeutsche Herkunft, sie kommen aus 12 verschiede-nen Ländern, aus Frankreich und Spanien, Japan und den USA, aus Rumänien, Serbien, Ka-nada. Von den Asiatinnen abgesehen, sind Hiesige und Fremde kaum zu unterscheiden. Alle schauen frontal in die Kamera, der Blick konzentriert sich auf die Gesichter, selbst die Frisu-ren sind meist nur angeschnitten. Menschengesichter eben, denen auch nicht anzusehen ist, ob sie einem Hausbesitzer oder einem Hartz IV-Empfänger gehören. Sie schauen herab auf ihren Kiez, ein faszinierendes Projekt ästhetischer Aneignung.

Und was für ein kommunikatives Netzwerk musste gesponnen werden, um die Ausstellung zustande zu bringen! Da waren zunächst diejenigen zu finden, die bereit waren, sich fotogra-fieren und öffentlich präsentieren zu lassen. Alle Aufnahmen entstanden in dem winzigen Raum eines Künstlervereins in der Winsstraße. Wer sich schon getraut hatte, als Modell zu fungieren, brachte bald neugierige Nachbarn und Freunde mit. Insgesamt entstanden so viel mehr Fotos, als schließlich umgesetzt werden konnten. Denn das Teuerste an dem Projekt, der Druck der Bilder auf bis zu vier Quadratmeter große Planen, war limitiert durch die Mittel, die erfreulicherweise vom Kunstamt Pankow zur Verfügung gestellt worden waren. Alles andere wurde ehrenamtlich geleistet. Eine Druckerei aus dem Kiez sponsorte die Werbung für die Aktion. Besonders spannend wurde es noch einmal, als es darum ging, jene Mieter zu finden, die ihre Balkone für die Ausstellung zur Verfügung stellten. Denn die größte Wirkung entsteht dort, wo viele Fotos am selben Haus hängen. Doch nachdem die ersten Plakate ange-bracht worden waren, wuchs die Bereitschaft anderer Balkonbesitzer sprunghaft an.

Die Ergebnisse dieses ungewöhnlichen, kreativen, soziokulturellen Projektes sind noch bis Ende April an Häusern der Immanuelkirchstraße und der Winsstraße zu besichtigen. Die Aus-stellungsmacher hoffen, dass ihre Idee in anderen Bezirken und Städten aufgegriffen, viel-leicht auch weiterentwickelt wird. Mitmenschen gibt es schließlich überall.